Bevor man sich allerdings mit dieser Frage beschäftigen kann, muss geklärt werden, wie die Situation in den Charts aussieht. Weil sich das in der heutigen Zeit dank dem Internet leicht überprüfen lässt, können wir die Top 50 Hitparade der letzten drei Monate problemlos aufschlüsseln.
An Hits würde es der Schweiz nicht mangeln, trotzdem lässt der Durchbruch auf sich warten. Als Magazin, das mit dem Gedanken, HipHop aus der Schweiz eine Plattform zu geben, gestartet ist, wurde diese Frage in der Redaktion schon öfter in den Raum gestellt: Wie kann es sein, dass in Deutschland bei jeder Single Spotify-Rekorde mit Leichtigkeit geknackt werden, sich aber ein Grossteil der Schweizer Rapper damit begnügen muss, wenn ihr Song eine Woche nach Release vielleicht einmal die 5000er-Marke schafft. Dazu haben wir uns einige Gedanken gemacht.
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iTunes ist tot. Um heutzutage trotzdem noch Bares aus den Brieftaschen der Fans zu bekommen, ist schon sehr viel Engagement nötig. Das zahlt sich aber aus, denn eine verkaufte Single entspricht 148 Streams von Premium-Accounts. Diese Zahl dürfte hinsichtlich der Chartrelevanz noch steigen, schreibt die Schweizer Landesgruppe der ifpi, schliesslich wird durch das Playlisten-Game nicht jeder Track aktiv zum Streamen angewählt. Um zurück zum Thema zu kommen: Wenn Singles nicht mehr gekauft, sondern nur direkt aus dem Internet gehört werden, wird es für CH-Rapper immer schwieriger, in die Charts zu gelangen. War dieser Sprung früher mit ordentlich Community-Power noch möglich, kommen heute nur noch die Wenigsten gegen die Klick-Flut eines Ed Sheerans, J Balvins oder Lil Nas X’ an. Der aktuelle Hit von DJ Snake, J Balvin und Tyga wird in der Schweiz beispielsweise über 32'000 mal gestreamt – und das pro Tag. Es verwundert also nicht, dass CH-Rapper Woche für Woche die Charts verfehlen. Szenegrössen wie Pronto oder Goldrapper Stereo Luchs können trotz ansprechender Streaming-Zahlen nicht mithalten und haben dementsprechend ihre erste Single-Charts-Platzierung noch nicht erlebt. Im Vergleich: 2015 konnten sich EAZ und Xen mit «Kei Zit» noch den zweiten Platz sichern. Mehr zu den Gefahren durch Spotify, Playlisten und gekauften Zahlen, erfährst du im neuen LYRICS Magazin. Erhältlich in unserem Online-Shop. Zwei der letzten Schweizer Chartstürmer: XEN & EAZ
Drake wird angehimmelt, weil er unerreichbar scheint. Young Thug kann man nicht verstehen. Das Phänomen «Lil Pump» ist nicht greifbar. Diese Effekte der US-Stars würden allerdings recht schnell verpuffen, wenn jeder Rapper potenziell dein Nachbar sein könnte oder du ihn Woche für Woche in deiner Lieblingsbar antriffst. Obwohl Nähe zur Community sicherlich positiv ist, hindert es KünstlerInnen daran, ein Image und einen Character aufzubauen. Folge: Auch die Musik büsst an Reiz ein. Wenn Drizzy mal eben ein Outfit im Wert eines Einfamilienhauses flext, hat das nicht mehr viel mit dem Leben eines Durchschnittsbürgers gemein.
Einer der Lieblingsproduzenten der ganz Grossen im Musikbusiness hat sich schon sehr früh als Mundart-Hater zu erkennen gegeben. Im LYRICS-Interview mit OZ spricht er an, was viele denken: «Ich glaube Schweizerdeutsch ist einfach nicht gemacht für Rap… […] Es rappen ja viele hier sehr technisch und schnell. Ich verstehe sie dann kaum und kann nicht viel damit anfangen. Ich höre privat keinen CH-Rap, wünsche aber allen Künstlern viel Glück.» Die Mundart-Sprache mit all ihren Dialekten und Eigenheiten kann also ein Hindernis sein: Es schmälert die potenzielle Zielgruppe (sogar im eigenen Land, welche vier Landessprachen hat), transportiert offenbar einen Bünzli-Vibe und man versteht nicht den ganzen Text. Das sind auch die genannten Argumente eines CH-Rap-Haters.
Vielleicht werden sich die Vorurteile gegenüber Mundart im Zuge der zunehmenden Globalisierung lockern. Während HipHop aus Frankreich, Schweden, Holland oder Russland weltweit Zugang finden, wäre es schliesslich auch komisch, wenn die Schweiz weiterhin gegen die eigene Sprache fremdelt, oder? Wenn es denn so weit ist, können wir uns auch gleich vom lästigen, behindernden Kantönligeist verabschieden.Vor etwas mehr als einem Monat ist Nekfeu, trotz Sprachbarriere, auf die Zwölf gechartet.
CH-Rap-Fans werden es kennen: Kaum wird das Thema HipHop in der Schweiz angeschnitten, schon ertönt ein «Schwiiz Rap? Mit so Sektion Kuchichästli, Breitbild, Wurzel 5 und so?» CH-Rap weckt keine Assoziationen, die sich irgendwo auch nur in der Nähe des Zeitgeistes verorten lassen würden. Das wäre allerdings bitter nötig, um beim Pulsmesser der Zeit, den Charts, erfolgreich zu sein. Es ist 2019 und Schweizer Urban Music hat mehr zu bieten als Baggy Pants, hochgepitchte Samples und Reime über Freestyles oder die eigene NPC. Acts, welche in Anlehnung an aktuelle Trends rappen oder gar völlig eigenständige Soundbilder kreieren, sind noch nicht in den Köpfen der Durchschnitts-Bürgerinnen und -Bürger angekommen.Pronto murmelt sich gerade in die Gehörgänge der Jugend. Im chartbestimmenden Mainstream ist er trotzdem noch nicht angekommen.
Projiziert man unsere Gedanken auf die Zukunft, wird die wöchentliche Bestenliste wohl noch einige Jahre weiter von den massenkompatiblen Sounds aus Deutschland besetzt. Solange zumindest, bis CH-Rap sich eine Strategie zurechtgelegt hat, wie er die oben aufgeführten Konflikte lösen kann. Für die nächsten Wochen wird deshalb wohl weiterhin Lil Nas X mit seinem Cowboy-Hut von den oberen Chartpositionen der Schweizer Rap-Landschaft zuwinken.