Und plötzlich lag er mit dem Gesicht im Schlamm. Wenige Momente zuvor hatte LYRICS-Leser Giulio aus dem Tessin noch völlig euphorisiert und atemlos erzählt, dass er extra für die Show von Kontra K nach St. Gallen gereist war – doch dann stimmte der Berliner Rapper die ersten Takte seines Klassikers «Erfolg ist kein Glück» an. Es folgten: Gegröhle, ein riesiger «Circle of Death» und – taktgenau zur Hook – ein absoluter Moshpit des Grauens.
Diese Szene wiederholte sich gefühlte hundert Mal am diesjährigen Openair St. Gallen. Egal ob beim Konzert von Nativ, BHZ, Kummer, Stress oder Stereo Luchs: Es wurde gnadenlos gemosht und mit voller Kehle mitgesungen – denn die Leute waren verdammt ready und hatten richtig, richtig viel Lust auf Live-Musik. Kein Wunder, denn nach zwei Jahren Zwangspause haben wir alle gespürt, warum wir uns Sommer für Sommer diese Schikane aus langen Warteschlangen, Camping in Schräglage, Dreck, Schlamm, Sonnenstich, Kater und mangelhafter Körperhygiene antun: Weil man sich fast nie so lebendig fühlt, wie an einem richtig guten Festival.
Eines dieser grandiosen Openairs ist und bleibt der Traditions-Event im Sittertobel. Mit den Jahren haben die Organisator:innen auf ihren ehemals strengen Indie-Fokus verzichtet und das musikalische Spektrum immer stärker geöffnet. Seither gibt sich ein buntes Potpourri aus internationalen und nationalen Künstler:innen wie Muse, Giant Rooks, Patent Ochsner, Marteria oder eben Kontra K das Mikrofon in die Hand. Böse Zungen mögen dies leicht abschätzig als «random» oder als «weder Fisch noch Vogel» bezeichnen, doch man merkte den Leuten einfach an, dass sie die Abwechslung schätzen. Wer sich gerade in der Sternenbühne im BHZ-Moshpit komplett nassgeschwitzt und gefühlte zehn Knochenbrüche geholt hat, spaziert gerne mal auf entspannt zur Sitterbühne herüber, um sich mit einem Bierchen die vom Rumschreien lädierte Kehle zu befeuchten und das deutlich ruhigere Konzert von Tones And I anzuhören.
Klar: Dieser Fokus auf Breite und Abwechslung führt dazu, dass alle Die-Hard-Rap-Fans weniger auf ihre Kosten kommen als beispielsweise am Openair Frauenfeld. Gerade CH-Rapper:innen musste man auf dem Lineup mit der Lupe und viel Geduld suchen. Ein grossartig aufgelegter Stress lieferte trotz technischen Problemen eine tolle Liveshow auf der Hauptbühne und Nativ brachte mit seinem energiegeladenen Auftritt die kleine Plaza Stage zum Kochen. Auch Lil Bruzy, Naomi Lareine, Stereo Luchs und Priya Ragu hielten die Fahne hoch für die urbane Schweizer Musikszene. Doch gerade in Bezug auf die kleineren Bühnen würden mir da noch einige Namen aus dem Mundart-Rap einfallen, die das Potenzial hätten, richtig viel Stimmung zu machen.
Ein Höhepunkt ist und bleibt zudem die Atmosphäre auf dem Camping-Platz und dem Festival-Gelände. Es gibt wenig Besseres, als frühmorgens einen Kaffee zu holen und den anderen Besucher:innen zuzuschauen, wie sie zerknittert, aber zufrieden aus ihren Zelten kriechen. Wenig Besseres, als den Sonnenstich mit einem Bad in der Sitter abzumildern. Und wenig Besseres, als eine Runde Flunkyball zu spielen oder ein Bierchen in einem der vielen Fest-Zelte zu zwitschern und mit Leuten aus der ganzen Schweiz ins Gespräch zukommen. Denn am Openair sind wir alle eine Familie. Den Alltagsstress und Weltschmerz lassen wir zuhause. One Love. Openair St. Gallen, wir kommen wieder.