«Irgendwie bin ich es der Menschheit schuldig»
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May
2022

Nativ im Interview

«Irgendwie bin ich es der Menschheit schuldig»

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2022

Nativ im Interview

«Irgendwie bin ich es der Menschheit schuldig»

Moritz Wey
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«Irgendwie bin ich es der Menschheit schuldig»
Quelle:
Jojo Schulmeister
Letzen Freitag erschien «Marathon», Nativs zweites Solo-Album. Im Interview spricht er über Selbstzweifel, das Streben nach Glück und die Erklärung hinter seinen unfassbaren Live-Qualitäten.

«Das Leben ist ein Marathon.» Geläufig könnte man meinen, mit dieser Verbildlichung seien vor allem die ellenlangen Anstrengungen gemeint, die mit einem solchen Kraftakt verbunden werden. Ein Blick aufs Cover verrät: Es geht um mehr. Seine Antwort auf die Frage nach der Metapher des rennenden Nativs verdeutlicht es:

«Entweder schweifst du als Läufer ständig mit dem Blick nach vorn und zurück. Du erblickst die Konkurrenz in deinem Rücken, dir stets auf den Fersen und der Blick nach vorne zeigt die Leistungsstärkeren, die das Ziel noch vor dir erreichen. Oder aber du läufst in deinem Tempo mit, dankbar dafür, Teil einer grossen Bewegung zu sein. Du wirst dir bewusst, wie sich deine Mitläufer:innen mit grosser Freude in die gleiche Richtung bewegen. Dann schnappst du dir kurzerhand ein Wasser und läufst im Klaren, dass du genauso feierlich wie alle anderen empfangen wirst, entspannt ins Ziel.»

Das Albumcover von Stephan Hostettler.

Dieses Bild veranschaulicht Nativs Herangehensweise, die ein hoffnungsvolles Werk wie «Marathon» in einer solch schwierigen Weltlage erst möglich macht. Klar klinge es pathetisch, aber darin sehe er einen Weg. Wenn Thierry Gnahoré, so heisst Nativ wirklich, spricht, lässt er seinen Gedanken freien Lauf und teilt auf nahbare Art und Weise mit, wie es ihm damit geht. Sowohl privat wie auch in seiner Musik scheut sich Thierry nicht, sich und seinen Mitmenschen Fragen zu stellen, hinzuweisen ohne abzuweisen. Als sei es seine Lebensaufgabe, immer wieder neue Blickwinkel einzunehmen. Seiner Kunst, die er nahe entlang seiner persönlichen Entwicklung schöpft, hört man die gewonnene Klarheit an. «Marathon» bringt Vergangenes auf den Punkt, malt Zukünftiges aus und setzt das Hier und Jetzt in den Fokus.

Vor zwei Jahren entschied Nativ, sich an sein nächstes grosses Werk zu setzen. In einer Zeit, in der das kulturelle Leben fernab von Bühnen stattfindet, entstehen über sechzig Songs. «Chom mir rede mitenang» ist die erste Line, die als Baustein zum Song «Orare» führt. Dabei entwickelt sich das Album alles andere als linear. Immer wieder schlagen Exekutivproduzent Sperrow und Nativ neue musikalische Wege ein, finden neue Klänge zum Text. Sperrow, seinerseits geschätzt für die organischen Boom-Bap-Beats, erfindet sich mit Nativ, der gerne auch an progressiveren Produktionen feilt, ein Stückweit neu. Ein langer Schaffensprozess, der auch von unterschiedlichen Lebensphasen, Ereignissen und den damit verbundenen Empfindungen eingenommen wird. Eigentlich sollte «Marathon» schon anfangs letzten Jahres erscheinen, doch Nativ ist mehr als d’accord. In der Retrospektive offenbart sich, wie alle unvorhersehbaren Einflüsse ihre Wichtigkeit behalten.

«Mir scheint’s als wären wir satt von den schweren Themen, als suchten wir in der Musik eine leichte Ablenkung, bei dem wir nicht allzu viel denken müssen.»

Du gehst gegen die 30 zu und veröffentlichst dein zweites Solo-Album. Wie gross ist der Druck?

Ziemlich hoch. Verglichen mit «MVZ. Vol. 1», meinem ersten Release, sind viel mehr Aufmerksamkeit, ein grösseres Team und damit auch mehr Erwartungen vorhanden. Schliesslich ist mein Musikmachen existenziell, ich lebe seit vier Jahren davon. Andererseits mache ich mir den grössten Druck selbst: In dieser Pandemie-Zeit fehlte die Live-Resonanz der Leute. Das ist für mein Künstlerwesen enorm wichtig, auch im Schaffensprozess. Ich stellte mir deshalb öfter die Frage: Was, wenn sich in dieser schnelllebigen Zeit niemand mehr dafür interessiert, was, wenn meine Musik in der Flut untergeht?

Ist das eine Realität, die du auch von deinem Musiker:innen-Umfeld zu hören bekommst?

Schon auch. Klar spielt es nun mehr eine Rolle, wie «Streaming-affin» deine Musik produziert ist oder wie regelmässig du zum Beispiel die sozialen Medien fütterst. Früher fiel mir das ständige Onlinesein, unterwegs Berichten und sich Inszenieren noch einfacher, da war es mehr Teil meiner Identität. In den letzten Jahren ist das ein bisschen abgeflacht. Die Auswirkungen kriegte ich zu spüren: Es dauerte nicht lange bis ich dem Algorithmus nicht mehr entsprach und unter dem Radar lief. Die Leute wollen das: Entertained werden, in den Alltag mitgenommen werden, kurzweilige Belanglosigkeiten. Das stelle ich leider auch bei mir fest, ich zieh mir so oft irrelevanten Scheiss rein.

Weshalb brauchen wir das?

Obwohl schon immer irgendwo Krieg herrschte, sind viele Leute – jetzt wo er so nah stattfindet – überfordert. Es passiert so viel traurige Scheisse: Mir scheint’s als wären wir satt von den schweren Themen, als suchten wir in der Musik eine leichte Ablenkung, bei dem wir nicht allzu viel denken müssen. Das beobachte ich auch bei mir. Ich war in den letzten Monaten mehrfach an einem Punkt, an dem ich mich fragen musste: Wieso tue ich mir diese Auseinandersetzung an?

Dabei ist «Marathon» doch ein lebensbejahendes, hoffnungsvolles Album! Woher kommt diese Positivität?

Ich habe keine andere Wahl. Es klingt kitschig, aber ich glaube es ist grösser als Du und Ich. Ich möchte meinen Teil zu einer besseren Welt beitragen. Irgendwie bin ich es der Menschheit schuldig – gerade auch weil ich mir meinen Privilegien sehr bewusst bin. Zu wissen, wie mein Vater sich ein Leben hier aufbaute. Den Austausch mit meinem Halbbruder und all meinen Freunden – diese Realitäten inspirieren mich und lassen mich dankbar sein. Wobei dies auch nicht immer einfach ist...

Was meinst du damit?

Aufs und Abs zu akzeptieren gehört definitiv zu meiner grössten Challenge. In Momenten, in denen ich hyped bin nicht abzuheben, mit beiden Beinen am Boden zu bleiben. Und auf der anderen Seite, wenn ich gerade in einem Loch bin, muss ich mir auch sagen können: Hey, das darf sein und es wird auch wieder besser.

«Wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, zeigen immer drei Finger auch auf sich selbst.»

Ist das nicht etwas, womit wir alle zu kämpfen haben? Ständig leisten zu können und auch noch gut drauf zu sein.

Der Leistungsdruck ist in den letzten Jahren nochmals stark gewachsen. Ich sehe auch hier wieder Zusammenhänge zu den sozialen Medien. Überall werden wir konfrontiert damit, wie cool, erfolgreich und glücklich alle Menschen sind. Obwohl sich die meisten von uns bewusst darüber sind, dass dies nicht der absoluten Wahrheit entspricht. Und doch fallen wir immer wieder in dieselben Muster.

Welche Strategien oder konkrete Tools helfen dir persönlich, nicht allzu stark in den sozialen Medien abzudriften?

Das kommt stark auf meine Phase an. Zeitweise habe ich oft meditiert, und zwar im klassischen Sinne, mit Atem- und Achtsamkeitsübungen. Wäre schön, würde es immer funktionieren. Doch in den letzten Monaten bin ich wieder voll im Medienstrom. Es ist echt nicht einfach, möglichst bei sich zu bleiben, aber ich versuche fest, mir die die Zeit zu nehmen, um herauszufinden, wo meine Bedürfnisse liegen, was ich gerade brauche. Man soll sich bewusst werden, dass man gut ist, so wie man ist. Wir sind alle gerade dabei herauszufinden, was ein solcher Medienkonsum mit uns macht.

Auf «Introspect» rappst du «Dueni mir selber weh in Form vo Seubstzwifle dueni immer au de Angere weh»…

Ich glaube ganz viele zwischenmenschliche Konflikte gehen Hand in Hand mit Selbstzweifeln, Wut oder anderen Emotionen, die beim Individuum liegen und nicht im eigentlichen Sinne mit der Beziehung zu tun haben. Wenn ich voll bei mir bin, fällt es mir viel leichter auf Realitäten anderer einzugehen oder sie anzunehmen. Oder anders gesagt: Wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, zeigen immer drei Finger auch auf sich selbst.

Diese Finger an dich nimmst du besonders ernst…

Nun ja, ich habe enorm hohe Erwartungen an mich selbst, besonders wenn es um Werte geht oder ums Konsequent-Sein. Werde ich dem nicht gerecht, werte ich mich oft stark selbst ab. Und dann geht es leider oft nicht ohne, dass dies Leute im nahen Umfeld mitabbekommen. Wenn ich mir hohe Erwartungen auferlege, mir Mühe gebe, schliesse ich damit oft auf andere – obwohl jeder Mensch anders ist und ich nicht erwarten kann, dass alle gleich denken.

«Wir streben nach Dingen, die wir nicht wirklich brauchen und vieles, das bereits da ist, nehmen wir kaum wahr.»

«Retrospective» blickt zurück und beschreibt eine exzessive, wilde, aber auch orientierungslose Phase. Du scheinst damit abzuschliessen…

Es geht mir mehr ums Reminden als ums Abschliessen. Natürlich habe ich mich entwickelt und bin mir vielem bewusst geworden, aber es gab auch Phasen, in denen ich beispielsweise wieder mehr getrunken haben. Wenn ich dann merke: Okay, jetzt geht es wieder mehr in eine komische Richtung, mache ich mir bewusst, dass ich einen solchen Song geschrieben habe. Insofern ist es mehr eine Art Tagebuchführung. Wenn es anderen Menschen hilft, freut das ungemein, aber in erster Linie verarbeite ich eigene Anteile.
Dennoch bist du und deine Musik heute an einem anderen Punkt wie zu deinen Anfängen.

Gibt’s auch Songs, hinter denen du nun nicht mehr stehst?


Also alles ab «Baobab» kann ich noch voll unterschreiben – mit Ausnahme vom «Awful»-Projekt, da gab es einige Songs, die würde ich nicht mehr so schreiben. Gewisse Inhalte kritisiere ich, die möchte ich nicht auch noch reproduzieren.

Du hast ein breiteres Bewusstsein dafür, was Worte bei Zuhörenden auslösen können…

Vermutlich. Zum Beispiel hat mich meine Verwendung des N-Worts stark beschäftigt. Zwar meine ich von den meisten meiner Zuhörer:innen die Sensibilität und Auseinandersetzungsbereitschaft erwarten zu können, um als weisse Menschen nicht unbedingt das Wort an einem Konzert herauszuschreien. Dennoch: Songs wie «Butterflöigä» habe ich geschrieben und den Text damit gewissermassen vorgegeben. So kommt es auch, dass viele in der Hook – ungeachtet der sensibilisierenden Message des Stücks – «I bi bossed up, N****» mitsingen.

Wie reagierst du in solchen Momenten?

Ich habe mir auch schon überlegt, direkt auf sie zu reagieren. Doch ich möchte dann doch niemanden blossstellen, weil ich ja weiss, dass diese Menschen in diesem Moment den Song – und wahrscheinlich auch die damit verbundenen Aussagen – wertschätzen. Darum habe ich mir mittlerweile angewöhnt, die Stelle in der Line mit «Brotha» oder «Sista» zu ersetzen. Und dann auch gemerkt, dass Leute in der Crowd darauf reagieren, und ihr Worte beim nächsten Mal auch anpassten.

Hast du generell einen gewissen Sensibilisierungsprozess wahrnehmen können? Zur Zeit des medialen Hochs der Black-Lives-Matter-Bewegung hast du von der Chance geredet, dass nun weisse Menschen vermehrt achtsam zuhören würden…

Mir scheint's, als würden leider viele einfach auf den progressiven Zug springen wollen. Schaut man genauer hin, geht die Auseinandersetzung mit eigenen diskriminierenden Anteilen meist nicht sehr tief. Auf der anderen Seite – und da wären wir beim Song «Cancel Culture» - nehme ich einen Kampf um Toleranz wahr, der sehr intolerant geführt wird. Sobald man nämlich das Gefühl hat, die Problematik vollends verstanden zu haben und sich in einer diskreditierenden Haltung über Leute stellt, die noch nicht an diesem Punkt sind, hilft man der Gesamtsituation nicht weiter.

Welche Haltung wäre angesagt?

Anstatt selbst auszugrenzen, wäre es wichtiger verstehen zu wollen, weshalb gewisse Menschen diesem Verständnis ferner sind, und ob es vielleicht sogar etwas mit den gesellschaftlichen Klassen zu tun hat. Im schlimmsten Fall fühlen sich diese nämlich selbst als Aussenstehende und Unverstandene und sind damit besonders leichte Ziele für Menschen mit extremisierenden Absichten. Man sollte sich darum selbst immer und immer wieder in Frage stellen – der Weg ist das Ziel.

Darum läufst du deinen Marathon – zumindest im übertragenen Sinne. Wie ist dieses Bild entstanden?

Wir sollten das Hier-und-Jetzt viel mehr wahrnehmen. Mit der Verbissenheit, unbedingt gewinnen zu wollen, kommt man (im Leben) nicht weit. Nur so gelingt es auch, nicht so streng mit sich selbst zu sein.

«Kommt eine Botschaft frisch und ohne Abwertung daher, kann sie viel mehr angenommen werden.»

Es geht darum zu schätzen, was ist, was man bereits hat…

Genau. Viele stecken sich Ziele mit der Haltung, dass sie erst glücklich sein können, wenn sie dieses oder jenes erreicht haben. Kaum ist es so weit merken sie, dass sie doch noch nicht so zufrieden sind. Der grosse Stress wäre gar nicht nötig gewesen.

Ist es dir schon so ergangen, vielleicht in deiner Musikerkarriere?

Eigentlich nicht wirklich, wenn dann privat oder auf unsere Gesellschaft bezogen. Der Kapitalismus kann nur funktionieren, solange wir alle glauben, wir bräuchten immer mehr und mehr. Wir streben nach Dingen, die wir nicht wirklich brauchen und vieles, das bereits da ist, nehmen wir kaum wahr.

An verschiedenen Stellen deiner Kunst zeigt sich, dass du feministische Standpunkte vertrittst – Wie kommt’s?

Ganz einfach: Ich möchte – und so verstehe ich die Feminismus-Definition – dass Frauen* die gleichen Rechte haben wie Männer*. Und natürlich brauche ich diese Begrifflichkeiten bewusst – gerade, weil Gott weiblich zu lesen, oder von Welt als Vulva zu sprechen nicht gerade Alltäglichkeiten im Rap sind.

Die Line «Gester hani gredt mit Gott und Sie isch nid xenophob…» und die darauffolgenden Zeilen verbinden sogar mehrere Gesellschaftsthemen und Anliegen miteinander…

Genau. Dabei sehe meinen Weg darin, auf all diese gesellschaftlichen Debatten hinzuweisen, ohne mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Kommt eine Botschaft frisch und ohne Abwertung daher, kann sie vielmehr angenommen werden. Das ist mir lieber, als den Prototyp des feministischen Raps zu claimen.

Als Mensch stehst du nicht unbedingt sehr gerne im Mittelpunkt. Wenn ich aber sage, dass du der beste Live-Rapper der Schweiz bist, würden mir viele zustimmen. Wieso kannst du das so verdammt gut?

Tatsächlich fällt es mir nicht immer leicht, mich in verschiedenen sozialen Konstellationen wohlzufühlen. Ist dies nicht der Fall, bin ich eher ruhig oder ziehe mich zurück. Gerade deshalb benötigt jeder Auftritt enorm viel Überwindung und fühlt sich wie ein Sprung ins kalte Wasser an. Es baut sich eine riesige Spannung auf, die sich auch mit der ursprünglichen Emotion des Songs vermischt – das ist entscheidend. Schliesslich gelingt es mir dann jeweils, dieses komplette Gefühlschaos nach vorne und in den Moment zu kanalisieren. Dann bin ich überwältigt von den einmaligen Momenten, die zwischen den Fans und mir entstehen und auch jedes Mal ein bisschen stolz, dass ich es auf die Bühne geschafft habe. Ich bin nicht der begnadetste Lyricist und auch nicht der beste Rapper, aber für diese hörbare Dringlichkeit darf ich mir auf die Schultern klopfen.

Im unserem neuen Format «Hot Rotation» erzählte uns Nativ von seinem Lieblings-Newcomer-Track, dem besten Moshpit-Banger und welche Songs er sonst auf und ab hört.

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