Es gibt Alben, bei denen der Hype über Monate hinweg von Single zu Single befeuert wird, wo gezielt auf den Moment des Releases zugearbeitet wird. Überraschungen gibt es dann nur noch wenige, man weiss ungefähr was einen erwartet. Das kann auch angenehm sein. Und dann gibt es Artists, die das schlicht nicht nötig haben, bei denen sich der Hype wie von selbst einstellt und mit fortschreitender Wartezeit immer grösser und grösser wird. Es reicht dann bereits, wenn man so ungefähr ahnen kann, dass da etwas kommt. Und dann ist es plötzlich soweit.
Die Gefühle, die man am Releasetag eines solchen Albums hat, müssen nicht nur angenehm sein. Besonders, wenn es sich um einen Artist handelt, von dem man viel erwartet. Zu gross ist die Angst vor einer Enttäuschung. Oder man hat gerade durch den Hype, die Omnipräsenz, den Overkill, keinen Bock das Album zu hören, obwohl man sich eigentlich freut. Was mich am Tag des Releases von «Mr. Morale & the Big Steppers» davon abgehalten hat, das Album sofort zu hören, ist eine Kombination aus den beiden Gründen. Es war aber auch das Wissen darüber, dass es gerade «talk of town» ist, dass gefühlt alle eine Meinung dazu haben und ich mir natürlich auch eine bilden musste. Niemand hat das von mir verlangt und doch gibt es diesen inneren Anspruch, mich irgendwie dazu zu positionieren. Nur schon im persönlichen Umfeld, dann aber auch mit dem Gedanken, etwas darüber zu schreiben.
Dieser Widerwillen kommt aus Erfahrung: Man hört ein Album anders, wenn man von Beginn an auf eine Bewertung abzielt. Schreibt man einen Text, braucht es einen oder mehrere Aufhänger. Ein Track kann noch so gut sein, ist aber für eine Rezension wertlos, wenn man nichts dazu schreiben kann. Geht man nur mit dem Anspruch daran, sich selbst eine Meinung zu bilden, ist das weniger krass und doch dominiert beim Hören die Frage, wie man das jetzt findet. Besser wäre es wahrscheinlich, das Album erstmal auf sich wirken zu lassen, ohne auch nur einen Gedanken an eine mögliche Bewertung zu verlieren. Denn auf der anderen Seite steht immer ein Album, in welches unzählige Arbeitsstunden geflossen sind. Das können je nach Artist natürlich mehr oder weniger sein und auch über die Qualität des Endprodukts ist damit noch nichts gesagt. Und doch steht ein schnelles Urteil nach dem ersten Hördurchlauf in keinem zeitlichen Verhältnis dazu.
Kool Savas hat sich zu dieser Thematik ganz ähnlich auf Twitter geäussert und neben Zustimmung auch Widerspruch bekommen. Diesen teile ich zumindest in der Hinsicht, dass die Forderung nicht sein kann, dass man sich für eine Bewertung genauso lange Zeit nehmen soll, wie der Produktionsprozess des entsprechenden Albums gedauert hat. Oder dass man als Kritiker:In genau so tief in der Materie drinstecken sollte wie der oder die Urheber:In. Ein solcher Anspruch wäre auch angesichts der Menge an Releases illusorisch – und verunmöglicht Kritik ganz grundsätzlich. Halt so, wie es kaum Sinn macht, uns Kritiker:Innen an den Kopf zu werfen, dass wir es erstmal selber besser machen sollen. Das ist schlicht nicht unsere Aufgabe, sonst wären wir ja Rapper geworden.
Viel mehr geht es darum, ein Bewusstsein für die Kunstform des Albums zu schaffen – wobei bereits in einem Song mehr Arbeit steckt, als sich die meisten Musikhörer:Innen wahrscheinlich vorstellen. Es geht auch darum, die eigenen Hörgewohnheiten zu hinterfragen, egal ob man in irgendeiner Form über Musik schreibt oder sie «nur» still konsumiert. Weil es eben nicht nur ein passives Konsumieren ist, weil man nach dem ersten oder zweiten Durchgang oft schon aktiv entscheidet, welche Tracks man speichert und welche nicht. Ich bin da keine Ausnahme. Bei einem mittelmässigen Machwerk mit zig Vorab-Singles ist das vielleicht noch in Ordnung, doch spätestens bei einem Album wie es Kendrick Lamar gerade veröffentlicht hat, wird das zum Problem. Und zwar unabhängig davon, ob man Kendrick für den besten Rapper aller Zeiten und das Album für ein Meisterwerk hält oder – was genau so legitim ist – nicht. Der Punkt ist: Das Album funktioniert als Album und nicht anders. Mit einem thematischen roten Faden, gleichzeitig geprägt von einer Vielstimmigkeit und Widersprüchen sowie offenen Fragen, die man weder in einer Review noch sonst wie abschliessend beantworten kann. Und wenn überhaupt, dann nur für sich selbst.
Dieses Potenzial steckt in jedem Album, das mehr sein will, als eine Sammlung von Songs. Tyler, the Creator ist ein weiteres Beispiel, Casper in Deutschland, Tommy Vercetti und Dezmond Dez bei uns. Alles Künstler, die sich sehr genau überlegen, wie ihre Alben funktionieren sollen. Natürlich sind das bei weitem nicht die einzigen, die sich diese Mühe machen. Gerade deshalb müssen wir das ganz grundsätzlich zu schätzen lernen, Augen und Ohren dafür offenhalten. Und vielleicht ist schon das nächste Release, das du und ich und wir uns bewusst, mehrfach und ohne schnelles Urteil anhören, das Album, das uns für den Rest unseres Lebens begleitet.