Stereo Luchs - Genrebrecher
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2021

LYRICS History Episode 10

Stereo Luchs - Genrebrecher

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2021

LYRICS History Episode 10

Stereo Luchs - Genrebrecher

Elia Binelli
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Stereo Luchs - Genrebrecher
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In unserer Throwback-Rubrik «LYRICS History» schauen wir zurück auf sieben ereignisreiche Jahre LYRICS Magazin. Die Printversion, die seit zwei Jahren nicht mehr produziert wird, bietet so einige Perlen, die sich nicht nur aus Nostalgiegründen zu lesen lohnen. Deshalb ein Rückblick auf einige unserer relevantesten, besten und spannendsten Artikel von 2014 - 2019.

Wir reisen zurück ins Jahr 2017. Deutschrap wird gerade von der Dancehall-Wave überollt, die Charts sind voll mit Bonez MC und RAF Camora. Im Gegensatz zu vielen anderen sprang Stereo Luchs aber nicht einfach auf einen Hype-Train, denn diese Art Musik machte er schon seit zwei Jahrzehnten. Sein Album «Lince», dass von Fans und Kritikern gefeiert wurde, gilt heute als CH-Rap-Klassiker. Wird durften den damals 36-Jährigen interviewen und sprachen mit ihm über den konstanten Wandel im HipHop-Genre, politische Messages in Rap-Songs und die, wie er findet, völlig unnötige Autotune-Diskussion.

Prolog 

Unser Rap-Genre ist ein hochpotentes, paarungsfreudiges Genre, dessen Befriedigung im Einfluss fremder Soundbilder liegt. Daran ist auch gar nichts verwerflich. Schon vor zwanzig Jahren predigte Max Herre den «Soul» als wichtigstes Bindeglied zwischen dem Rapper und seiner Kunst. Heute sind es nicht mehr das Saxophon und dumpfe Pianomelodien, sondern Afro-Riddim und Dancehall-Tunes. So tanzte auch deine kleine Schwester den ganzen Sommer zu lockeren und lebensbejahenden «westafrikanischen Samples», wie es RAF Camora doch so schön zu sagen pflegt.

Nach all diesen Jahren ist es endlich an der Zeit, die stetigen Entwicklungsprozesse, die Einflüsse und heiteren Bettgeschichten unseres geliebten Genres zu akzeptieren und vor allem zu bewundern. Wenig Musikstile erleben eine solche Diversität. HipHop kann sich Jahr für Jahr anders erfinden, deshalb wird es uns Rap-Fans nie langweilig werden. Welch ein Privileg!

Stereo Luchs - Genrebrecher

Bild: Severin Gamper (VISUAL Productions)

Seit RAF Camora und Bonez MC mit «Palmen aus Plastik» Strassen-Poesie auf frischen Dancehall-Soundmustern zelebriert haben und damit zwanzig Gold- und Platin-Platten in ihren Kiez brachten, ist Rap im deutschsprachigen Raum infiziert – infiziert mit dem Dancehall-Virus. Klar, auch die Schweiz hat es getroffen. Plötzlich wagen sich viele Rapper an heiteren Afro-Trap und stimmungsvolle Dance-Rhythmen. Teils fliegen sie stilsicher und elegant auf dem neuen Soundteppich, teils schämt man sich fremd. Manche krachen zwar im Sturzflug wieder durchs Dach zurück in ihr «Kiffer-Rüümli», andere schweben wiederum losgelöst von Schubladisierungen hoch in neue künstlerische Sphären.

Doch einer gleitet schon seit Jahren auf seinem Stoffgewebe, gestrickt aus Reggae-, Rap und Dancehall-Fasern, durch das Land und sitzt auch heute zuoberst in den Spotify-Viral-Charts. Hier heisst er uns willkommen in seiner Welt. Ja, Stereo Luchs ist der Inbegriff von Dancehall-Musik in der Schweiz. Dies nicht erst seit der Trend Dancehall als Erfolgsrezept plädiert, sondern seit Beginn seiner Karriere, also bald zwanzig Jahren. Seine Spuren führen uns zurück nach Zürich, zurück an die Dancehall-Parties, wo er als DJ und Szeni die Reggae- und Dance-Kultur mitprägte. Zusammen mit Wegbegleiter und engem Freund Phenomden hat er mitgeholfen, den Mundart-Reggae aus der Dancehall-Szene in die Radios zu tragen.

Schon damals war klar: Silvio Brunner, wie Stereo Luchs bürgerlich heisst, ist ein Musiker ohne Geltungsdrang und Star-Allüren. Silvio ist bodenständig, reflektiert und herzlich – kein Mann, der grosse Töne spuckt. Seine Musik wird also für ihn sprechen müssen. Und das tat sie dann auch: 2013 folgt mit «Stepp us em Reservat» sein langersehntes Debut. Veröffentlicht wurde der Erstling auf seinem hauseigenen Label «Pegel Pegel!». Das Album war innovativ und die Resonanz durchaus positiv, doch die Schweiz war noch nicht wirklich bereit. Bis zu seinem neuesten Werk hat er mit seiner «Pegel, Pegel!»-Crew weiterhin ordentlich Output geliefert, stets unter dem Radar der Aufmerksamkeit. Er hat wohl unterbewusst auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um mit dem nächsten Tonträger den Zeitgeist ins Schwarze zu treffen. Und dieses Werk kam am 10. November 2017. Sein neues Album «Lince» bringt ein stimmungsvolles Soundbild mit.

Es ist ein Vibe-Konstrukt aus Trap-Elementen, Dancehall-Rhythmen und eingängigen Autotune-Melodien. Mitproduziert wurde das Album von KitschKrieg –der Name ist mittlerweile Programm – ein professionell aufgebautes Kollektiv, welches den Sound in Deutschland mit Produktionen für Trettmann und Haiyti entscheidend mitprägt. Das Album perfektioniert die Symbiose von Dancehall und Rap und hat somit das Potenzial, der Urban-Bewegung in der Schweiz den Stempel mit der Aufschrift «State of the Art 2017» aufzudrücken. «Lince» sprengt die Ruinen ehemaliger Genre-Grenzen endgültig und liefert die musikalischen Gründe dafür, Klischees zu überwinden und die Schubladen voller Vorurteile und theoretischen Definitionen leerzuräumen.

Auch lyrisch bewegt sich Stereo Luchs stilsicher auf den Instrumentals. Mit kleinen Worten werden einfühlsame Töne gesprochen. Textlich ist «Lince» eine wortklare Reflektion eines Erwachsenen. Nicht nur sein Werdegang, sondern auch seine Lyrik legitimiert die ach so essenzielle Authentizität. Und die ist vor allem dann von Bedeutung, wenn man neue Wege ebnet, so wie dies Stereo Luchs tut. Er ist keine Kopie, sondern das Original. «Ziitreis», der letzte Track und zugleich Höhepunkt des Albums, unterstreicht Stereo Luchs nüchterne und doch berührende Erzählweise. Die alte Zeit kann vermisst und geschätzt werden, aber man soll sich der Zukunft zugleich optimistisch gegenüberstellen. Die Vergangenheit und Erinnerungen, so schön sie auch in ihrer Erzählung klingen mögen, sind nicht alles. Auch morgen kann das Leben Geschichten schreiben. «Später gits na vill meh z‘verzelle», definitiv, denn mit diesem Werk wird ein neues Kapitel aufgeschlagen, über welches man in vielen Jahren noch spricht. Dann dürfen wir zur Nostalgie neigen. Doch jetzt wird erstmal mit einem Guinness aus dem Inderladen angestossen, auf all das, was uns Künstlerwie Stereo Luchs in diesem farbenfrohen und stiloffenen Genre noch bescheren werden.

«Dancehall isch im Hype jetzt.» Wie kannst du dir diesen fulminanten Aufschwung erklären?

In deutschsprachigem Europa war sicherlich «Palmen aus Plastik» eine entscheidende Kraft. Dieses Album war der Kick-Off und hat vielen Künstlern Türen geöffnet. Auch das Lager um Drake in Toronto fing vor wenigen Jahren an, Dancehall-Elemente in ihren Songs zu featuren. Ich sehe den Erfolg auch darin, dass durch den Einfluss von Dance-, Party- und Girl-Tunes Rapper neue Wege entdeckt haben, sich musikalisch auszudrücken. Sie versuchen also, mehr Wert auf verschiedene Vibes zu legen, umso auch mehr Abwechslung und Diversität in ihr Soundbild zu bringen. Es ist eine neue, spannende Welt für Rap-Artisten. Zugleich schaffen sie es dadurch noch einfacher in die Clubs und Radios.

Dancehall hat an Authentizität und Freshness dazugewonnen. Ist der Erfolg auch darauf zurückzuführen, dass man Dancehall nicht mehr mit Bands wie Culcha Candela assoziiert?

Auf jeden Fall! Dancehall fängt hierzulande auch wieder einen völlig anderen Vibe ein. Man assoziiert das Genre wieder mit der Strasse. Es hat den urbanen Vibe zurück. Vor allem junge Menschen könnensich dadurch identifizieren. Jahrelang wurde Dancehall – eben wegen Acts wie Culcha Candela – in der breiten Öffentlichkeit auf diese oberflächliche alles-happy-nice-Schiene reduziert. Verständlicherweise wussten nicht alle mit diesem Sound etwas anzufangen.

These: Die Rap-Musik entwickelt sich in eine Richtung, in der es hauptsächlich um die Vibes geht und die Lyrik mehr und mehr an Wert verliert. Dies kommt dem Dancehall entgegen.

Für mich legen wir schon sehr viel Wert auf die Lyrik. Wir kämpfen hier gegen ein Vorurteil an. Für viele macht es den Anschein, dass die Texte einfach und simpel gereimt sind. Doch wenn man dann einmal einen Vybz Kartel-Song auseinandernimmt, wird einem schnell klar, dass Künstler wie er den Sound auf lyrischer Ebene enorm weiterentwickelt haben. Triple-Rhymes und komplexe Patterns sind definitiv keine Seltenheit mehr.

Der Fokus wird also auf beides gesetzt?

In erster Linie muss immer der Vibe stimmen. Dies steht ausser Frage. Nur gut verschachtelte Reime bringen dem Hörer nichts, sofern der Vibe nicht transportiert werden kann. Ich versuche aber natürlich immer, so gut wie möglich zu schreiben. Das muss ja mein Anspruch als Musiker sein. Ich möchte mich lyrisch ganz klar mit einem Vollblut-Rapper messen können. 

Rap und Dancehall liegen eng beieinander. Wo ziehst du die Parallelen?

Die Genres vermischen sich. Dancehall und Rap stehen sich aber schon seit Jahren sehr nahe und haben ähnliche Roots und sprechen eine direkte, oft harte Sprache. Parallelen lassen sich auch in ihrem Auftreten erkennen: Beide verkörpern Selbstbewusstheit und Competition. Auch Dancehall ist im Ursprung Musik aus der Unterschicht. In Jamaika kommt die Musik von der Strasse.

Warst du schon einmal in Jamaika?

Ja, schon drei Mal.

Bild: Severin Gamper (VISUAL Productions)

Wolltest du auf diesen Reisen deine musikalischen Wurzeln aufsuchen?

Das erste Mal als ich in Kingston war, ging ich wirklich nur der Musik wegen. Zwei Wochen lang hing ich in den Studios rum und versuchte, mich inspirieren zu lassen. Es war spannend zusehen, wie omnipräsent die Musik in diesem Land ist. 24/7 spielt die Melodie, im Kiosk, im Taxi und an jeder Strassenecke– die Leute fühlen und leben dort die Musik. Selbst die alten Omas kennen die Tracks. Die Musik verbindet die Menschen in ihrem Alltag. Die ganze Kultur ist auf ihr aufgebaut. Diese Erkenntnis war eindrücklich und inspirierend. Was mich zudem überrascht hat, ist, dass die Herangehensweise und die Produktion der Musik unglaublich professionell sind. Wie würdest du dir das Musikmachen in Jamaika vorstellen?

Ein Rastafari, der auf dem Trottoir sitzt und lächelnd auf eine Djembé hämmert...

Eben, das ist genau das Bild, was man von Jamaika pflegt. Doch dies ist nicht so. Die Jungs in den Studios sind unglaublich fleissig und zielstrebig. Die Musik ist der einzige Way-out. Nur mit ihr oder dem Sport kannst du es rausschaffen, und wenn nicht, bist du am Arsch. Das ist der Grund, weshalb die Musiker dort auch so on fire und hungrig sind. Es ist ihre einzige Chance. Bei uns in der Schweiz herrscht eine andere Mentalität. Viele musizieren irgendwo zwischen Beruf und Hobby.

Bild: Severin Gamper (VISUAL Productions)

Ist auf Jamaika verhältnismässig auch mehr Geld im Spiel?

Auch auf der Insel ist nicht wahnsinnig viel Geld im Spiel. Aber Musik ist immer noch eine der besten Chancen, etwas Geld zu machen. Ein einziger Gig in den USA bringt einem Jamaikaner, der sonst ein paar Dollars pro Tag verdient, verhältnismässig viel Kohle ein.

Viele springen jetzt auf den Hype auf, doch wissen die Geschichte und die Kultur gar nicht zu kennen. Mich inbegriffen. Wie sehr schmerzt dich das?

 Das schmerzt mich nicht. Wir leben in einer freien Welt. Wenn jemandem danach ist, sich in die Reggae- und Dancehall-History hineinzudiggen, dann darf und soll er das tun. Doch dies ist definitiv keine Pflicht. Wer weiss, vielleicht interessieren sich die jungen Menschen in ein paar Jahren automatisch mehr für die Kultur. Ich wuchs ja auch in den 90er Jahren auf – das oft zitierte «Golden Age» von HipHop. Damals war das ewige Teachen der «Rap-Professoren» omnipräsent, was mich immer etwas genervt hat... doch dies ist ja heute noch so.

18-Jährige feiern zu Travis Scott, doch kennen Grandmaster Flash nicht. Für manche Fans grenzt dies immer noch an Kulturverrat. Ist dies wirklich noch so?

Ich bekomme das gar nicht mehr mit. Aber sind wir ehrlich: Das ist doch genau das Geile an HipHop. Das Genre entwickelt sich stetig weiter.

Word.

Ich habe gerade ein Interview mit AdRock von den Beastie Boys gelesen, wo sie ihn gefragt haben, wie er damit umgeht, dass die heutigen Teenager ihn gar nicht mehr kennen. Er meinte, dass dies genau die richtige Haltung sei. Es wäre doch weird, wenn ein 18-Jähriger ihn noch feiern würde. Das sehe ich genau gleich: HipHop wurde mittlerweile schon lange neu erfunden. Jede Generation schliesst mit seinen Vorreitern ab. Das ist bei anderen Genres allerdings völlig anders. Jede Rock-Band bezieht sich heute irgendwie immer noch noch auf die Beatles und die Stones. Dementsprechend hat sich der Sound auch nie mehr gross verändert und es hört sich für mich alles seit Jahrzehnten gleich an.

Du hast eine passende Line auf dem Album: «Scheiss Autotune, minetwege. Dinosaurier, wie isch es als Fossilie z‘lebä?»

Autotune ist die langweiligste Diskussion, die es je gegeben hat. Viele Leute begreifen halt die Funktion von diesem Effekt nicht. Sie wissen nicht, dass der perfekte Einsatz von Autotune eine Kunst für sich ist. Nicht jeder hat das Talent, Autotune gekonnt einzusetzen und nur mit dem Effekt hat man noch nie einen Song gerettet. Seit bald sieben Jahren wird darüber diskutiert. Absolut sinnlos.

Ist der Schweizer Musikhörer zu konservativ?

Ich kann natürlich nicht für die ganze Musik-Landschaft sprechen. Doch manche Menschen, denen ich begegnet bin, sind schon ein wenig zu konservativ. Nach all diesen Jahren mag ich vieles Zeugs einfach nicht mehr diskutieren. Vor allem die theoretischen Diskussionen, wo gestritten wird, was man in der Musik alles darf und was nicht. Jeder soll doch die Musik so machen, wie er sie will. Wir leben in einer freien Welt, und kein Mensch wird hier gezwungen, Musik zu hören, die ihm nicht gefällt. Es ist und bleibt Geschmacksache.

Im Song «Träne Ufem Tanzbode» singst du trotzdem, dass dich die Schweizer Musik manchmal verlegen macht. Weshalb?

Die Szene ist doch sehr altbacken und langsam. Ich wünschte mir von der Musik-Industrie, dass sie sich mutiger und offener zeigt.

Werden wir uns da noch weiterentwickeln?

Ja, ich bin zuversichtlich. Die neue Generation hat das Zepter in der Hand. Ich bin mittlerweile auch 36 Jahre alt und gehöre ja auch schon zur eingerosteten Garde. (lacht) Labels und Radio sind irgendwann dazu gezwungen, umzudenken und der neuen Welle eine Chance zu geben. Wir stehen aber schon mitten im Umbruch.

Bild: Severin Gamper (VISUAL Productions)

Trotzdem gibt es in der Schweiz noch sehr wenige aufkommende Dancehall-Künstler. Woran mag das liegen?

Es mag daran liegen, dass wir lange oftmals mit Klischees zu kämpfen hatte. Viele assoziieren diesen Musikstil noch immer mit Kiffer-Happy-Sunshine-Musik. Auch bei Interviews werde ich sehr oft auf das Kiffen angesprochen. Nichts gegen das Kiffen, im Gegenteil – doch wir repräsentieren uns als Genre einfach oftmals nicht wirklich sexy. Ein Future spricht die Teenager halt viel mehr an als irgendein Rasta-Guru mit Sandalen an den Füssen. Dies soll kein Disrespect gegen die Rasta-Culture sein, ich meine damit einfach die herrschenden Klischees.

Ein Imageproblem?

Nein, diese Jamaika-Reggae-Klischees machten es dem Dancehall einfach schwieriger, sich zu entfalten. Auch der weltverbessernde Zeigefinger hat uns wohl lange Zeit zu schaffen gemacht. Oft bestand die Musik aus dem Versuch, krampfhaft politisch zu sein, und scheiterte dann aber an Phrasendrescherei.

Die Lösungen der Probleme konnten also nie dargelegt werden?

Wenn man sich an die grossen weltpolitischen Probleme traut, hat man das Problem, die ganze Komplexität in einem 3-minütigen Song unterzubringen. Wenn das schiefläuft, führt es überspitzt gesagt, zu leeren Slogans wie: Rettet die Wale (lacht). Das politische Engagement endete daher oftmals in naiven Floskeln.

Wie politisch ist die Reggae-Kultur an sich?

Eigentlich sehr politisch. Jamaika war eine Kolonie der Engländer. Viele kamen als Sklaven auf die Insel. Rastafari war ursprünglich eine Protesthaltung gegen den christlichen Glauben, welcher dem Volk aufgezwungen wurde. Es ist eine unglaublich komplexe und interessante Geschichte. Während der Black-Power-Bewegungen haben sich die Künstler auch intensiv mit dieser Kultur und den Missständen beschäftigt. Die politischen Erkenntnisse haben sich dann auch in der Musik wiedergefunden. Doch davon übrig geblieben sind die ewig zitierten Phrasen, die heutzutage oft nichts mehr gross aussagen.

Müssen Künstler heute politisch sein?

Ich finde es unglaublich wichtig, dass man als Mensch politisch ist. Ich schätze aber auch Künstler, die in ihrer Musik politische Statements machen und sich für Veränderungen einsetzten. Als Hörer kann ich auch nicht 24 Stunden am Tag Musik hören, in der nur Markennamen gedroppt werden. Klar, ich finde den Sound auch fresh und unterhaltsam, doch manchmal brauche ich als Hörer mehr Substanz. Doch sobald man sich in seiner Kunst politisch äussert, bewegt man sich schnell auf sehr dünnem Eis.

Es wird sehr schnell widersprüchlich. Manche Künstler kritisieren den Kapitalismus in ihrer Kunst, wobei wiederum ihre Projekte von Grosskonzernen finanziert und unterstützt werden. Ein heikles Thema, über welches auch hier nicht gerne gesprochen wird...

Diesen Widerspruch gibt es auf jeden Fall. Doch es kommt einfach darauf an, wie man es formuliert. Es ist verwerflich, wenn man in seinen Texten mit dem Zeigefinger auf andere zeigt und sich aus der Verantwortung nimmt. Man muss einfach akzeptieren, dass man ein Teil des Problems ist und seine Fehler auch bei sich selbst suchen. Ich finde es trotzdem wichtig, dass man als einflussreicher Künstler Zeichen setzt. Ich bin davon überzeugt, dass es mehr Gewicht hat, wenn ein wichtiger Rapper wie XEN gegen die Durchsetzungsinitiative aufruft, als wenn dies ein SP-Politiker mit einem Facebook-Eintrag versucht.

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Auch du hast jetzt mit Universal einen Major-Deal. Wie kam es dazu?

Ich hatte «Lince» schon praktisch fertig und suchte für das Release nach einem passenden Label. Ganz nach dem Motto: Nimm es oder lass es sein. Ich habe mich um keinen Label-Deal gerissen. Ich spürte auch keinen Druck, da ich es sonst wieder selbst in die Hand genommen hätte. Früher habe ich meine Werke ja auch independent unter meinem Label «Pegel, Pegel!» veröffentlicht. Im Endeffekt bin ich jetzt aber bei Island Records gesignet – ein traditionelles Reggae-Label, welches in den 60er-Jahren von Chris Blackwell auf Jamaika gegründet wurde. Künstler wie Bob Marley haben schon ihre Musik über dieses Label releast. «Lince» ist jetzt das erste deutschsprachige Release auf Island Records. Nur schon der Logo-Aufkleber auf meiner Platte stimmt mich stolz. Somit bringt das Werk ein Stück Reggae-History mit.

Bild: Severin Gamper (VISUAL Productions)

Bist du der Major-Versuch, Dancehall auf Mundart erfolgreich zu etablieren?

Wenn etwas im Trend liegt, kommen so oder so alle angerannt, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Die meisten sind allerdings immer ein wenig zu spät. Das Interesse von Universal war schon bei meinem ersten Album da. Sie verfolgen meinen Werdegang seit Jahren und sind nicht erst durch den Aufwärtstrend auf mich aufmerksam geworden. Früher verzichtete ich halt auf Business-Corporate-Support – ich wollte alles alleine durchziehen. Mittlerweile bin ich offener geworden.

Mit einem Major im Rücken kannst du dich auch viel mehr auf deine Kunst, deine Kreativität konzentrieren, da dir die Vermarktung von professionellen Händen abgenommen wird. Diesen Aspekt vergessen viele Leute.

Auf jeden Fall! Ich kenne mittlerweile beide Seiten. Viele Leute sind sich wirklich nicht bewusst, wie viel Arbeit der Independent-Weg mit sich bringt. Man muss so viel Bürokram erledigen, und hat gleichzeitig keine Garantie, dass sich das Ganze auszahlen wird.

Der Opener «Sunne Gaht uf» hört sich an wie ein Sprung in ein neues Kapitel. Ist «Lince» ein Neuanfang? 

Es ist ein Neuanfang auf verschiedenen Ebenen. Einerseits musste ich mit privatem Struggle abschliessen, mit dem ich in Vergangenheit zu kämpfen hatte. Ich wollte den Mood transportieren, dass ich die Kraft verspüre, mich stets aus dem Sumpf ziehen zu können. Alles ist wieder möglich. Anderseits ist es auch ein musikalischer Neuanfang. Es ist der Start in ein neues Kapitel. Ich demonstriere, wie Dancehall von Stereo Luchs im Jahr 2017 zu klingen hat.

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