Das Schweizer Mundartrap-Jahr 1996 kann man als relativ leises, aber wegweisendes Jahr beschreiben. Es gibt zwar kaum Veröffentlichungen, dennoch lassen sich einige Hintergründe beleuchten.
«Die hiesigen Zeitungen handelten das Phänomen nicht auf der Kultur- oder der Jugendseite ab, sondern unter der Rubrik Unfälle und Verbrechen»
In einer Zeit nach den bekannten Jugendunruhen weichten sich die Grenzen zwischen etablierter und alternativer Kunst und Kultur zunehmend auf. In einem Bericht der Interessensgemeinschaft Rote Fabrik schrieb man zum Beispiel: «Es ist heute für Einzelne nicht mehr unvereinbar, am Mittwoch ins Opernhaus zu gehen und sich am Samstag ein Jazzkonzert in der Roten Fabrik anzuhören.» Doch wenn Jazz noch «alternative Kunst» war, was war denn HipHop? Weit weg von der Massentauglichkeit hatte die aus den Staaten übergeschwappte Jugendkultur schon damals mit ähnlichen gesellschaftlichen Befürchtungen und Stigmata zu kämpfen. Keine zwei Jahre zuvor las man im Blatt der Roten Fabrik: «Die hiesigen Zeitungen handelten das Phänomen nicht auf der Kultur- oder der Jugendseite ab, sondern unter der Rubrik Unfälle und Verbrechen» und listeten einige Schlagzeilen aus Zürcher Tageszeitungen auf: «‘Homeboys schlugen Passanten spitalreif‘, ‘Homeboys raubten Jugendliche aus‘, ‘Gangsta Rap: Musik oder Aufruf zur Gewalt‘.»
«Für uns ist Sprayen Kunst, unbestellte, deshalb ist sie auch Vandalismus.»
Seit den Anfängen («Fresh Stuff 2», siehe Folge «1992») bekannt war E.K.R. Der Stadtzürcher mit Legendenformat hatte im Jahr 1996 mit dem Label Familiebetrieb und Big Bass Brian die in UK produzierte EP «Chreis 5» veröffentlicht. E.K.R. selbst fand zur HipHop-Kultur und zum Sprayen und schilderte damals diesen Umstand im «Das Magazin» mit folgenden Worten: «Die Illegalität hat einen besonderen Reiz. In der Legalität kann man nie mit Adrenalin arbeiten. Die Grenzen sind abgesteckt. Für uns ist Sprayen Kunst, unbestellte, deshalb ist sie auch Vandalismus.»
1996 starb Tupac Shakur. E.K.R., der sich damals in London mit Produzieren und Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, schilderte seine Erinnerung an diesen einschneidenden Moment in einem Interview wie folgt: «An jenem Abend waren zwei Freunde aus Holland bei mir. Einer davon war ein eingefleischter Tupac-Fan. Wir hörten die BBC-1-Show von DJ Westwood im Radio, als der Tod von Tupac verkündet wurde. Für meinen Freund brach eine Welt zusammen, er ging auf die Strasse und lief unter Schock durch die Stadt.»
Ebenfalls in Zürich veröffentlichte die Rap-Koryphäe Lügner mit seiner Truppe Mamanatua (Wir berichteten über die Anfänge im Jahr 1993) die zweite Platte. «N'cé Tempo» hiess die kurze Auskopplung und war Vorbote ihres legendären Albums, das zwar fertiggestellt, jedoch nie veröffentlicht wurde. In den Untiefen des Netzes findet man dank Lügners Archivierungsliebe einen kostenfreien Soundschnipsel. Lügner, der mit seinem Tonstudio und seiner Multimedia-Produktionsfirma «UUM NUPER paragraphix» zu jener Zeit Strukturen aufgebaut hatte, ermöglichte erste Freestyle-Sessions und Gehversuche der talentierten Rapper Rennie (Sektion Kuchikäschtli) oder Rokator (Oibel Troibel).
«Die Zeit der grossen Jams war vorbei.»
Unser Zeitzeuge Shape kann zum Jahr 1996 wenig ausspucken. Nebst dem Gründungsdatum seiner Wrecked-Mob-Formation, die sich in den Folgejahren als prägend herausstellen sollte, nahm der Gefährte der Alten Schule vor allem eine Neuformierung der Szene wahr: «Die Zeit der grossen Jams war vorbei. Ein harter Kern traf sich an kleinen Parties, organisiert von ein paar übrig gebliebenen Aktivisten.»
Quellen:
https://www.definitiv-zuerich.ch/
http://punkrap.ch/
Thomas Früh, Fabrikzeitung, Mai 1994
EKR,Das Magazin, 11.11.1995
Linus Schöpfer, Tages Anzeiger, 08. August 2013