Vor ungefähr einem Jahr hat mir jemand Jorge Ben gezeigt. Innerhalb von zwei Tagen bin ich auf mindestens zehn weitere Artists gestossen, die sich in dieser doch sehr spezifischen Nische von brasilianischer Siebzigerjahre-Musik bewegen. Ein halbes Jahr später erzählt mir Buds Penseur in einem Interview, dass Jorge Ben einer seiner absoluten All-Time-Favourites sei. Bisher bin ich fast ausschliesslich positiven Reaktionen gegenüber dieser Musik begegnet und deshalb ist es umso wichtiger, ein Genre neu zu beleuchten, das gerne vergessen wird, wenn man über die Siebziger spricht. Und mit wem wäre das passender, als mit jemandem, der mit dieser Musik aufgewachsen ist?
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Um was geht es aber überhaupt? Das Genre der Tropicália ist ohne Kontext ziemlich schwierig zu beschreiben. Grundsätzlich bezeichnet es eine Bewegung Ende der Sechzigerjahre, die die brasilianische Kulturszene extrem belebte. Kunst generell und vor allem die Musik erlebte eine Art goldenes Zeitalter. Erreicht wurde dies durch eine moderne Neuinterpretation, in Form von Jazz- und Soul-Verschnitten, traditioneller brasilianischer Musik. Bossa Nova steht dabei stärker auf der Jazz-Seite. Es gibt aber auch Künstler, die sich sehr nahe an der amerikanischen Soul-Musik orientiert haben. Jorge Ben nimmt eine relativ spezielle Position in diesem Spektrum ein, indem er sehr viele traditionell-brasilianische Instrumente und Klänge verwendet und sie mit, für damals, kontemporären Jazz-Beats mischt, was schlussendlich etwas ergibt, was man als Samba klassifizieren könnte. Aber hier geht es nicht um Genres. Es geht nicht einmal spezifisch um Jorge Ben. Primär geht es hier um ein Rabbit Hole, das sich jedem auftut, der sich dieses Album anhört und es nice findet. Diese Kulturrevolution der brasilianischen Siebziger ist ein unglaubliches Event, das eine riesige Fülle an Musik produziert hat, die international weitestgehend unbekannt geblieben ist. Brasilien steht dabei längst nicht alleine mit einer so interessanten Jazz-Szene da, auch Japan, Nigeria oder die Türkei können ganze eigene Popkulturen vorweisen. Buds Penseurs Lieblingsalbum, Jorge Bens «Força Bruta», ist deshalb auch ein repräsentativer Pick. Es ist ein ausserordentliches Album innerhalb dieses Siebzigerjahre-Sounds, gleichzeitig aber auch eine Einführung in eine völlig neue Ecke der Musik. Die besten Momente nach Buds, um dieses Album zu hören, sind: ein ruhiger Morgen am Wochenende, eine Cabriofahrt im Sommer oder beim Kochen.
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Was läuft vor deinem inneren Auge ab, wenn der erste Ton dieses Albums zu ertönen beginnt?
Buds: Erinnerungen an Brasilien, Erinnerungen an meine Kindheit, weil das die Musik ist, die meine Mutter oft gehört hat, als wir jung waren. Deshalb ist es sehr stark mit Nostalgie verbunden. Im Erwachsenenalter habe ich es aber völlig neu entdeckt, als ich begonnen habe, mich mit brasilianischer Musik auseinanderzusetzen. Und in diesem Kuchen von brasilianischer Musik, sticht dieses für mich irgendwie heraus.
Wieso pickst du ein brasilianisches Jazz-Soul-Album als deinen All-Time-Favorite?
Ich würde sagen, dieses Album repräsentiert mich ein Stück weit – zumindest für mich selbst. Ich habe mich schon immer mit meinem musikalischen Horizont über das hinweggepushed, was im Moment präsent war und habe nie nur HipHop gehört, nur weil ich HipHop mache. Jazz spielt in meinem Leben eine grosse Rolle, genauso wie auch Funk und Soul. Jorge Ben bringt das zusammen. Über das Samplen und Diggen bin ich über amerikanische Artists dieser Zeit auf die brasilianische Szene der Siebzigerjahre gestossen. Und sobald man das tut, eröffnet sich eine riesige Welt voller unglaublicher Musik.
...die aber nie richtig den Sprung in die internationale Popkultur dieser Zeit geschafft hat. Weshalb genau «Forca Bruta» inmitten von hunderten von Alben? Und wie kommst du zur Vinyl-Platte, die als ziemliche Rarität gilt?
Das war in Brasilien auf einem Strassenmarkt und da war ein Typ, der Platten verkauft hat. Und ich habe die Platte herausgegriffen – ich hatte sie nicht gekannt – und relativ intuitiv gekauft für einen Zehner. Ich wusste wer Jorge Ben war, aber ich konnte mich nicht an dieses Album erinnern. Als ich wieder in der Schweiz war, habe ich mir das Album angehört und mich direkt verliebt – und einige Wochen später habe ich herausgefunden, dass die Platte fast ein Hunderter wert ist. Aber es ist auch nicht so, dass das Album völlig allein dasteht. Es gibt einige Alben, die sehr nahe an dieses herankommen: Arthur Verocais gleichnamiges Debütalbum beispielsweise, nur um eines zu nennen, oder alles von Azymuth.
Und was nimmst du von Jorge Ben mit? Es heisst ja doch etwas, wenn ein dir damals unbekanntes Album auf einem Strassenmarkt heute dein Lieblingsalbum ist.
Sehr beeindruckend meiner Meinung nach ist «Forca Brutas» Inhalt. Jorge Ben erzählt einfache und doch detaillierte Szenarien in einer sehr lebhaften Sprache. Es ist kurz und knapp gehalten, nutzt diesen Platz aber sehr effizient mit Wortspielen. Was die Herangehensweise und Struktur angeht, spielt Freiheit eine grosse Rolle. Es zeigt, dass man nicht immer einem extrem klaren Raster folgen muss, um einen Song zu strukturieren. Diese Fluidität anderer Genres fehlt mir beim HipHop ein wenig, denn es bleibt nicht wirklich viel Spielraum, was Songstruktur angeht.
«Madlib ist auch ein Hauptgrund, warum ich als Erwachsener wieder neu auf diese Musik gestossen bin.»
Hast du das Gefühl, dass ein solches Ausbrechen im HipHop überhaupt möglich ist?
Ich versuche es in meiner Musik so gut wie möglich. Aber das ist nicht immer ganz einfach. Primär ist es für mich während des Prozesses etwas Wichtiges. Man sollte sich im Kreativprozess mindestens die Herausforderung setzen, sich ausserhalb des Gewohnten zu bewegen. Kunst ist nicht Mathematik. Und diese Freiheit, die man in der Kunst hat, sollte man schätzen und sich ausleben.
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Und diesen Ausbruch aus dem Raster hat Jorge Ben geschafft?
Ich denke schon. Aber das war auch kein Effort einer Einzelperson, sondern einer ganzen Generation. In Brasilien ist Ende der Sechzigerjahre etwas extrem Spezielles passiert. Eine alternative, relativ junge, popkulturaffine Generation hat die Kulturszene Brasiliens innert kürzester Zeit völlig umgekrempelt und Raum für experimentelle Musik geschaffen. So entsteht auch dieses völlig eigene Mischgewebe aus Jazz, Soul und traditioneller brasilianischer Musik. Eine ganze Welt, die man heute irgendwie kaum fertig erkunden kann. Bei mir hört es bis heute nicht auf. Und das Interessante ist, dass ich bei weitem nicht der einzige bin. HipHop hat brasilianische Musik ein wenig entdeckt. MF Doom hat auf brasilianischen Samples gerappt und vor allem Madlib ist hier eine treibende Kraft. Madlib hat vor einigen Jahren ein Album mit dem Drummer der Jazz-Band Azymuth aufgenommen – Jackson Conti. Er war generell viel in dieser Kultur unterwegs und Madlib ist auch ein Hauptgrund, warum ich als Erwachsener wieder neu auf diese Musik gestossen bin.
Die ganz grossen Musiker der brasilianischen Siebzigerjahre sind Kindheitsfreunde aus demselben Viertel.
Um was geht es thematisch in «Força Bruta»?
Die Themen sind relativ verschieden, bedienen sich aber schon an immer wiederkehrenden Mustern wie beispielsweise an der Liebe. «Mulher Brasileira» ist eine Hommage an die brasilianische Frau, ein anderer Song handelt vom Herzschmerz in einer Fernbeziehung. Aber es sind nicht nur Lovesongs.
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Was mir beim Durchhören dieses Albums immer wieder aufgefallen ist, ist das Chaos, das herrscht. Es passiert extrem viel und gleichzeitig hat alles seine klare Ordnung. Nichts klingt so, als wäre es nicht an seinem Platz.
Hier höre ich die Freiheit dieser Musiker wieder heraus. Es hat diese Moodswitches und sogar Geschwindigkeitswechsel, aber gleichzeitig kann man das Album durchhören, ohne einen Track zu überspringen. Und man hat trotzdem gute Laune, ohne dass man sich extrem darauf konzentrieren muss. Es ist ein Chaos, das aber einer ganz klaren Ordnung folgt. Deshalb sehe ich es auch als Meisterwerk. Es ist eines von wenigen Alben, das wirklich von A bis Z komplett stimmig ist und reiht sich so in diese perfekten Alben, die als Projekt ohne Makel funktionieren, ein – weitere Beispiele sind «Whats Going On» von Marvin Gaye oder auch Nas’ «Illmatic».
Was man immer beleuchten muss, wenn man über diese Ära oder nur schon über Bossa Nova spricht, ist der geschichtliche Hintergrund. In den 70er-Jahren ist in Brasilien ziemlich viel gelaufen...
Definitiv. Und deshalb ist es umso interessanter, dass die Musikszene in Brasilien so aufgeblüht ist. Jorge Ben steht bei weitem nicht alleine da. Tim Maia ist hier zu nennen, Caetano Veloso und Gilberto Gil gingen praktisch als Gesicht dieser Tropicalismo-Bewegung ins Gefängnis. Und es haben sich alle gekannt und waren befreundet. Die ganz grossen Musiker der brasilianischen Siebzigerjahre sind Kindheitsfreunde aus demselben Viertel. Das waren Kids, die immer Musik gemacht und dann als Erwachsene die brasilianische Musik revolutioniert haben.
Wie ist das passiert?
Das war die Zeit der Militärdiktatur. Viele der Musiker, die heute als Legenden gelten, mussten in dieser Zeit im Exil leben – daher auch die amerikanischen Jazz- und Soul-Einflüsse. Tropicalismo ist durch eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit den eigenen brasilianischen Wurzeln entstanden.
Aber das heisst das Setting für dieses Album ist letztendlich doch ziemlich düster und das Album verhältnismässig sehr upbeat und positiv, wenn man bedenkt, dass diese Künstler im Exil leben mussten.
Ich glaube, dass der Grund dafür in den Leuten selbst zu finden ist. Auch heute hat Brasilien massive politische Probleme, aber die Bevölkerung wirkt generell relativ glücklich. Diese Wärme und Freude zeigt sich in vielen Aspekten der Kultur. Deshalb verwundert es mich auch nicht, dass ein grosser Teil der Musik der Siebzigerjahre fröhlich gestimmt ist, irgendwie zieht sich das durch die Kultur hindurch.
Die Ambition darf nie materiell sein. Der Antrieb darf nicht das Finanzielle sein, sondern es muss die Kunst sein. Alles andere ist Bonus.
Wie lebt dieser Spirit der Siebzigerjahre heute weiter? Es scheint doch, als wäre diese goldene Ära langsam aber sicher vorbei.
Aus musikalischer Sicht hat sich die Landschaft sicher verändert. Aber der Vibe, den ein Album wie «Forca Bruta» ausstrahlt, erinnert mich sehr stark an die Stadt Rio. Es erzeugt eine Atmosphäre, die ich stark mit den Leuten dieser Stadt assoziiere, deshalb denke ich, dass dieser Spirit sicher auf diese Art und Weise weiterlebt, zumindest für mich. Diese Musik hat natürlich auch meine Generation extrem beeinflusst. Das sind die Songs, die wir auswendig mitsingen, weil wir sie so oft gehört haben. Und dieser Legendenstatus von Jorge Ben und Co. wird sicher noch einige Zeit bestehen.
Was für musikalische Details fallen dir auf diesem Album auf?
Es gibt ein Instrument – die Cuica. Und sie ist ein extrem spezielles Instrument. Man spielt sie, indem man mit einem feuchten Tuch in das trommelartige Case hineingreift und an einem Stab zieht, der ein Fell oder Leder zum Schwingen bringt. Mit dem Druck kann man dann den Klang verändern.
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...und das Witzige ist, sie klingt wie ein Blasinstrument.
Genau. Wenn man zum ersten Mal eine Cuica hört, hat man keine Ahnung, wie das aussehen soll. Und dieses Instrument hat mich so geflashed, dass ich mir, als ich letztens in Brasilien war, eines gekauft habe und es unter dem Arm in die Schweiz getragen habe. Aber ich muss zugeben, es ist ein sehr schwierig zu spielendes Instrument. Meine Töne haben alle wirklich scheisse geklungen. Und jetzt ist es bei einem befreundeten Perkussionisten, der die Cuica um einiges besser im Griff hat als ich. Aber ich habe jetzt wenigstens die Recordings davon.
Was lernst du heute aus diesem Rabbit Hole, das sich mit jedem neuen Künstler, den man entdeckt, weiter verwinkelt und scheinbar ewig weiterzugehen scheint?
Vor zwei Wochen hatte ich ein Gespräch mit Questbeatz und die Quintessenz des Gesprächs war: Die Ambition darf nie materiell sein. Der Antrieb darf nicht das Finanzielle sein, sondern es muss die Kunst sein. Alles andere ist Bonus.
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Ich glaube, dass das doch auch ähnliche Ambitionen sind, wie sie Jorge Ben verfolgt hat. «Forca Bruta» ist letztendlich auch eine Hommage an die eigenen Einflüsse und die brasilianische Kultur, verpackt als Popkultur dieser Zeit – Jazz.
Genau. Aber vieles hat sich auch verändert. Geld spielt heute in der Musik eine riesige Rolle und ich habe natürlich auch finanzielle Ambitionen. Es ist auch nicht so, als würde ich keine Statussymbole in meinen Texten verwenden. Aber das Wichtigste ist der Antrieb. Wenn man etwas auf seine künstlerische Freiheit hält, ist es wichtig, sich nicht in ein Raster zwängen zu lassen. Wenn ein Song sieben Minuten geht, dann geht er sieben Minuten und man muss ihn nicht auf Biegen und Brechen auf 2:30 runterkürzen. Ich glaube, vor allem als Independent-Künstler ist das umso wichtiger zu verstehen.
Und was kann man als Konsument tun?
Man kann interessiert sein. Und seinen Horizont über das hinaus erweitern, was man von Spotify und Co. serviert bekommt. Sehen, dass es mehr zu hören gibt als die algorithmusgesteuerten Rotationen. Unterstützt Independent-Artists mit zehn Franken für ihre monatelange Arbeit. Denn diese zehn Franken machen einen riesigen Unterschied für uns. Wenn fünfhundert Leute sich ein Album kaufen, dann heisst das wieder Studiotime für den Künstler. Es ist ja nicht so, dass wir Drogen und Sneaker mit diesem Geld kaufen. (lacht) Das passiert alles aus eigener Kasse.
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