Ihre Biographien erzählen verflochtene Geschichten von Flucht, Asyl und Armut, aber auch von Aufstieg, Erfolg und Integration. Über 15 Jahre nach Kriegsende entstehen neue Blüten: MCs aus der Balkan-Diaspora und die Leute vor Ort machen gemeinsam Musik. Südosteuropa wird eine neue Plattform, ein neuer Absatzmarkt für Schweizer Künstler mit Wurzeln im Balkan. Schweizer Rapper wie XEN, EAZ oder Marash schaffen neue Verbindungen zur alten Heimat. Ein Querschnitt durch über 20 Jahre «Ćevap Connection» – die Schweizer HipHop-Szene und der Balkan.
1991 wird die Welt vom abrupten Einsturz des sozialistischen Jugoslawiens überrascht. Nationale Spannungen, die sich über die Jahre hin angestaut hatten, explodieren in bewaffneten Konflikten: Zuerst in Slowenien, dann in Kroatien und Bosnien, zum Schluss im Kosovo. Die ehemals sozialistischen Bruderstaaten führen Krieg, die Region versinkt im Chaos.
«Ich mag mich nur noch verschwommen erinnern. [...] Alle kauerten am Boden, die Gesichter waren verängstigt. Langsam ging die Sonne auf und wir sahen, wie die Bomben am Horizont einschlugen.»
Viele Menschen ergreifen die Flucht, um den Gräueln des Kriegs zu entgehen, und nicht wenige landen über Umwege in der Schweiz. Darunter auch ein kleiner Junge, der sich später als Rapper einen Namen machen sollte.
«Ich mag mich nur noch verschwommen erinnern. Wir waren etwa 50 Menschen auf diesem überdachten Sportplatz. Alle kauerten am Boden, die Gesichter waren verängstigt. Langsam ging die Sonne auf und wir sahen, wie die Bomben am Horizont einschlugen.» Der Zürcher Rapper Bossnak erlebte den Kriegsausbruch in Bosnien hautnah. Als vierjähriger Junge floh er mit seinen Eltern aus dem belagerten Sarajevo über Kroatien und Italien in die Schweiz.
Über ein halbes Jahr lebte die Familie danach im Sammellager in Embrach. Heute sind die Baracken geschlossen, doch für seinen Videodreh zum Song «Sarajevo» konnte der Zürcher diesen Ort noch einmal besuchen: «Ich konnte mich an jedes kleinste Detail erinnern: Wie die Zimmer aussahen, wo die Tische und Stühle standen, hinter welcher Tür man die Waschstationen finden konnte.»
Auch als seine Eltern Jobs fanden und die Familie aus dem Lager nach Kloten umziehen konnte, blieb die Angst vor der Ungewissheit: «Wir lebten mit einer F-Aufenthaltsbewilligung und hätten jederzeit abgeschoben werden können.» Seine Erfahrungen der Flucht und des Asyls verarbeitete Bossnak im Song «Sarajevo»: «Asylanteheim in Embrach, Usländerhass ich känn das.»
Der Churer Rapper und Freestyle-MC Milchmaa wurde in der Schweiz geboren, trotzdem war Jugoslawien in seiner Kindheit und Jugend omnipräsent. Seine Eltern waren Teil der ersten Auswanderergeneration, die bereits in den 1970er-Jahren in die Schweiz gekommen war. Seine Eltern bauten ein Haus in Serbien, planten dort ihre Zukunft. Die Arbeiterfamilie lebte in einer jugoslawischen Community in Chur: «Bis zum Kindergarten sprach ich kein Wort Deutsch», erinnert sich die Freestyle-Legende.
Bis in die frühen 1990er-Jahre war die Einwanderung aus dem Balkan kein dominantes Thema in der Schweiz. Das änderte sich abrupt mit dem Kriegsausbruch. Auch Milchmaas Leben veränderte sich: Die Träume von der Zukunft in Jugoslawien lösten sich in Luft auf, die Familie musste sich mit einem Leben in der Schweiz arrangieren. Doch als «Jugo» in der Schweiz aufzuwachsen war nach den ersten Schüssen und Bomben nicht mehr so angenehm wie zuvor: «Der Krieg erfuhr ein enormes mediales Echo. Schnell verbreiteten sich die Stereotype, die ich als Kind dann zu spüren bekam». «Jugo» wurde zum Schimpfwort, der Balkan zum Synonym für Hass, Rückständigkeit und Krieg.
Auch Bossnak machte diskriminierende Erfahrungen: «In meiner Kindheit blieb ich vor solchen Stereotypen verschont – oder nahm sie ganz einfach nicht zur Kenntnis. Erst an meinem allerersten Schultag in Zürich wurde mir mein Migrationshintergrund bewusst. Bereits in der ersten Pause wurde ich von einem Mitschüler als ‹Scheissjugo› beleidigt.»
Neben diesem expliziten Rassismus litten viele Menschen mit Migrationshintergrund auch unter Diskriminierung bei der Jobsuche: Menschen mit «-ić»-Kürzel wurden oft trotz tadellosen Deutschkenntnissen von den Arbeitgebern benachteiligt. Seine Erfahrungen mit Integration und Stereotypen schildert Milchmaa auf seiner Platte «-ić». Mal mit Humor, mal wütend, mal nachdenklich reflektiert er sein Schicksal als «Jugo» in der Schweiz.
Hass und Schubladendenken der Mehrheitsgesellschaft waren und sind ein Problem. Bossnak möchte jedoch auch betonen, dass er in seiner Jugend nicht nur Ausgrenzung, sondern auch viel Unterstützung erfuhr. Die damalige Klotener Stadtregierung empfing die bosnischen Immigranten mit offenen Armen und sorgte mit Quersubventionen dafür, dass die Familien Campingurlaube im Tessin machen konnten.
Nach dem Ende der Balkankriege normalisierte sich die Situation auch in der Schweiz. Der Alltag hielt Einzug. Auf die Auswanderergeneration folgte eine neue Generation – junge Menschen, die in der Schweiz geboren sind und sich an beiden Orten zuhause fühlen. Klammheimlich hat sich auch der Balkan-Lifestyle in den Mainstream geschmuggelt: In der Migros kann man Ajvar kaufen und so mancher Schweizer wirft auch mal eine Packung Ćevapi auf den Grill. Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka sind die Nationalhelden der Neuzeit.
Sind die Stereotype gegen die «Jugos» damit Geschichte? Milchmaa ist skeptisch: «Für mich persönlich ist es nicht mehr so ein grosses Problem wie früher. Das liegt aber auch daran, dass ich mittlerweile weniger sensibel auf solche Ressentiments reagiere. Stereotype gibt es immer noch, aber der Fokus hat sich verschoben. Mittlerweile stehen neue Einwanderergruppen, zum Beispiel Eritreer oder Flüchtlinge aus Syrien im Zentrum der Debatte.»
Bossnak sieht ebenfalls einen Trend zur Besserung. Besonders in seinem urbanen Umfeld fühlt er sich wohl: «Zürich ist sehr multikulti, aber bis heute werde ich manchmal mit Stereotypen konfrontiert. Meist sehr unterschwellig, zum Beispiel am Arbeitsplatz. Manche Menschen können diese Vorurteile nicht abschütteln: Jugos sind für sie kriminell, schwarze Schafe.» Wie schnell die Stimmung kippen kann, zeigte auch die letzte WM: Vom Shaqiri-Hype zum Doppeladler-Skandal war es nur ein kurzer Weg.
Sommer 2013: Marash Pulaj flaniert in einem wackeligen Video gemeinsam mit seinem Partner David Largier durch die Luzerner Strassen. Marash & Dave, so der Name des Duos, hat mit «041» gerade so etwas wie die inoffizielle Hymne der Postkarten-Stadt Luzern geschrieben. Lokalkolorit und Heimatliebe mit einem Augenzwinkern.
Winter 2019: Marash Pulaj rappt für das Video zu «Bareshat» im verschneiten Kosovo und performt gemeinsam mit dem Künstler Katek vor den Moscheen in Prizren. Sie rappen auf Albanisch. Für Marash sind diese beiden Songs gleichermassen Ausdruck seiner Identität: «Ich bin Kosovo-Albaner und ich bin Schweizer.»
Der Sohn von politischen Flüchtlingen, die bereits 1990 aus dem Kosovo in die Schweiz migrierten, ist ein fester Teil der Schweizer Rap-Szene. Gemeinsam mit seinem Homie und Partner Dave hat er hierzulande schon einiges erreicht: Mixtapes, Debüt-Album bei Sony Music, Festival-Gigs, tausende Fans. Seit einigen Jahren ist er aber auch im albanischen Raum bekannt. Als Moderator der Show «Fol Shqip», die in Luzern produziert und im Kosovo und Nordmazedonien ausgestrahlt wird, ist er dort ein Star: «Im Kosovo werde ich ständig auf der Strasse erkannt.» Nun wagt er sich an eine zweite Musikkarriere: «Bareshat» soll ihm den Einstieg in den albanischen Musikmarkt ermöglichen.
Marash ist nicht der erste Künstler aus der Schweizer Rap-Szene, der Kontakt mit der albanischen Musikszene sucht. Die Pfade wurden bereits vom Label Physical Shock und den Künstlern XEN und EAZ geebnet. Bereits auf ihrem Physical Shock-Sampler Vol. 1 wagten sie erste Schritte: «Ale», einer der grössten Hits der Platte, überraschte durch eine melodische Hook auf Albanisch. Letzten Herbst kam dann der Paukenschlag: Mit Ledri Vula zogen sie einen der grössten albanischsprachigen Rap-Stars als Featuregast an Bord. Seither geht es steil bergauf: Über 3 Millionen Klicks auf «Nasty Girl», Club-Shows in Albanien, zweisprachiger Output. Auch Pronto, der meistgehypte Rapper im Schweizer Game, connectete mit dem wahl-albanischen Star Cliqme. Das Resulat: «Don’t be shy» und «Basa Basa», zwei veritable Sommerhits.
Marash zufolge ist der Sommer die Hochsaison in Kosovo und Albanien: «In den Sommermonaten kommen alle Diaspora-Albaner, die Strände sind voll, jeden Abend gibt es Parties. Die Stimmung ist besser als auf Mallorca.» Für die albanischen Rapper ist es der Zeitpunkt, um ordentlich Kohle zu verdienen: «Der albanische Musikmarkt funktioniert anders als hier in der Schweiz.» Anders als in der Schweiz gehört zu jeder Party auch eine Club-Show: «Albanische Musiker verdienen ihr Geld durch Auftritte an Parties.» Der Markt ist beachtlich: Neben Shows in Albanien, im Kosovo oder in Nordmazedonien werden albanische Rapper auch in New York, in Sydney oder in der Schweiz gebucht – etwa im «Rinora 4» in Rümlang, einem der grössten Clubs des Landes. Verständlich, da mittlerweile mehr Albaner in der Diaspora als auf dem Balkan leben.
Sind Kosovo und Albanien also das neue Eldorado? Marash warnt vor zu viel Euphorie: «Ich bekomme zwar viel Support, aber es ist nicht ganz einfach, im Musikbusiness Fuss zu fassen. Der Markt ist hart umkämpft, die alteingesessenen Labels bekämpfen sich, gerade im Gangsta-Rap geht oft die Post ab.» Wer sich auf dem albanischen Markt einen Namen machen will, kann im Vergleich zur Schweiz zwar ein Vielfaches an Fans erreichen, muss aber auch mit hohem Konkurrenzdruck rechnen. Marash ist gut vorbereitet: Er hat mit Sony einen zweiten Vertrag als Solokünstler geschlossen und einen albanischen Booker im Team. Dennoch macht er sich keine Illusionen: «Im nächsten Sommer werde ich wohl noch nicht viele Club-Shows spielen. Ich muss geduldig sein.»
Seine Karriere als Schweizer Rapper möchte Marash dennoch nicht vernachlässigen: «Auf Schweizerdeutsch kann ich mich besser ausdrücken.» Diese Flexibilität als Künstler ist ein Zeichen der Zeit: Die Streaming-Dienste und die Digitalisierung führen zu einer Internationalisierung des Hörverhaltens. Künstler nutzen das Internet und Label-Strukturen, um über Sprachgrenzen hinweg miteinander in Kontakt zu treten. Die Fans gewöhnen sich an mehrsprachige Songs.
Bossnak bestätigt diesen Trend: «In den letzten Jahren wurden sprachliche Barrieren abgebaut. Die Menschen sind viel offener für internationalen Sound geworden. Schau mal, wie gut Pronto in Deutschland ankommt.»
Um seine Geschichte auf dem Song «Sarajevo» zu erzählen, hat Bossnak mit Ivica Petrušić, dem bosnischen Leadsänger der Band Šuma Čovjek, zusammengearbeitet. Er könnte sich gut vorstellen, in Zukunft vermehrt mit ausländischen Künstlern zusammenzuarbeiten. «Ich war schon immer offen für solche Kooperationen, aber die letzten drei Jahre haben auch gezeigt, dass das wirklich funktionieren kann.» Es müsse aber kein bosnischer Feature-Gast sein: «Ich würde auch mit Künstlern aus der Dominikanischen Republik arbeiten, wenn mich ihr Vibe catcht.»
Nur wenige Bevölkerungsgruppen drücken der modernen Schweiz derart ihren Stempel auf, wie die ehemaligen Auswanderer aus dem Balkan. Die dritte Generation ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Es gibt albanische Ärzte, serbische Gymnasiallehrer und bosnische Büroangestellte. Das Klischee vom Jugo auf der Baustelle ist definitiv überholt.
Junge Menschen denken noch zu oft in den Strukturen der Kriegsgeneration: Vermeintliche Heimatverbundenheit, Nationalismus – oft herrscht ein konservativer Geist in der Balkan-Diaspora.»
Mit der Diversität verändert sich auch die Beziehung zu den Wurzeln in Südosteuropa. Für Bossnak ist der Fall klar: «Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, sie ist meine Heimat. Bosnien ist die Heimat meiner Eltern und ich fühle mich den Menschen dort sehr verbunden, fahre mehrmals im Jahr hin. Es ist ein gutes Gefühl, dort zu sein. In Bosnien ist alles entschleunigt, nicht so schnelllebig wie in der Schweiz. Dort habe ich meine Rückzugsoase, um Selbstreflektion zu betreiben.»
So gut Bossnak der Spagat zwischen den Heimaten gelingt – nicht alle Menschen haben es geschafft, den historischen Ballast, den Nationalismus des 20. Jahrhunderts abzuwerfen. Milchmaa identifiziert Probleme: «Mittlerweile lebt die dritte Generation von Einwanderern aus dem Balkan in der Schweiz, doch auch junge Menschen denken noch zu oft in den Strukturen der Kriegsgeneration: Vermeintliche Heimatverbundenheit, Nationalismus – oft herrscht ein konservativer Geist in der Balkan-Diaspora.»
Bossnak hat andere Erfahrungen gemacht. Über die alten Konflikte aus der Heimat sei für die Schweizer Jugos Gras gewachsen, meint der Zürcher. Die gemeinsame Geschichte, die geteilten Erfahrungen verbinden: «Meine Generation ist viel entspannter, wir haben den Krieg hinter uns gelassen.»
Auch wenn noch nicht alle Konflikte gelöst sind: In der Schweiz hat sich das Zusammenleben normalisiert. Durch die Einwanderung ist das Land zumindest in den Städten multikultureller und lockerer geworden. Diese neue Lockerheit tut auch dem Musikschaffen hierzulande gut. Ohne Künstler wie XEN, Marash oder Baba Uslender wäre das Rap-Game um einiges langweiliger. Und wer möchte schon auf Ajvar in der Migros, Shaqiri auf dem Fussballplatz oder schweizerisch-albanische Sommerhits verzichten?