Dieser Artikel wurde mir zugeteilt mit der Idee, dass ich darüber schreiben sollte «warum es gerade als weisser Rap-Fan wichtig ist, Flagge zu zeigen und um die ignoranten Leser, von denen es mehr gibt, als man denkt, wachzurütteln». Ich schreibe «zugeteilt» nicht, um Desinteresse am Thema auszudrücken oder um mich aus der Verantwortung zu ziehen. Das Thema Rassismus interessiert mich, wie es uns alle interessieren sollte. Aber gerade durch die Auseinandersetzung damit ist mir bewusst geworden, wie problematisch oder gar kontraproduktiv ein solcher Beitrag sein kann.
"Die Schwingszene ist offener als die Rap-Szene!"
Wie alle weissen, westlichen Menschen bin auch ich von den herrschenden diskriminierenden Machtstrukturen und Stereotypen geprägt. Mein Denken und Handeln ist nicht weniger gefährdet, rassistische Denkmuster zu reproduzieren, nur weil ich einmal #blacklivesmatter gepostet oder eine Rede von Dr. Martin Luther King gehört habe. Auch ich profitiere von weissen Privilegien und Machtstrukturen. Ausserdem: Braucht es wirklich eine weitere weisse Meinung zum Thema Rassismus?
Das andere Problem dieser Artikel-Idee ist doch, dass sie direkt aus den 80er-Jahren stammen könnte. Es ist wichtig für weisse Rap-Fans Flagge zu zeigen? Yeah, no Shit. Dass sich weisse HipHop-Fans mit genau der Community solidarisieren sollten, die ihr Genre von Grund auf aufgebaut hat, ist offensichtlich und sollte im Jahr 2020 keinen Artikel benötigen. Alles andere lässt sich mit der Kultur des HipHop auch gar nicht vereinen.
"Auch die Schweizer Polizei ist diskriminierend"
Schliesslich steht HipHop für Zusammenhalt, für den Kampf gegen unterdrückende Autoritäten, für das Einstehen für Schwächere. Wer sich empört und meint, dass dies in der CH-Rap-Landschaft ja der Fall sei, den erinnere ich gerne an den massiven Aufschrei, den es gab, als sich das Openair Frauenfeld für die Ausweitung des Diskriminierungsverbots auf homosexuelle Menschen aussprach. Die Rap-Community hat sich da ignoranter gezeigt als Schwing-Fans, nachdem sich der erste Schweizer Schwinger als schwul outete. Genau, die Schwingszene (!) hat sich offener gezeigt als die Rap-Szene.
Ich selber habe schon fast keine Geduld mehr übrig, um immer wieder dasselbe zu erklären: Ja, Rassismus gibt es auch in der Schweiz. Ja, es ist ein Privileg, weiss zu sein. Ja, auch in der Schweiz ist die Polizei diskriminierend. Ja, ich verstehe die Verzweiflung der Demonstrant*innen in den USA und in Frankreich. Nein, ein paar abgebrannte Läden von Trump-unterstützenden Milliardenkonzernen sind nicht wichtiger als Menschenleben, die über Jahre hinweg immer wieder grausam und sinnlos ausgelöscht wurden. Und nein, diese Form des Protests delegitimiert die Bewegung nicht. Und wenn diese Erklärungen für mich schon anstrengend und frustrierend sind, dann will ich mir gar nicht vorstellen, wie zermürbend es für Black People or People of Color (BPoC) sein muss. An dieser Stelle ein grosses Shoutout an alle Betroffenen, die sich die Mühe immer und immer wieder machen. Danke für eure Geduld. Danke für euren Durchhaltewillen.
"Wir weissen Menschen wollen einfach nicht zuhören"
Denn tatsächlich ist es doch so: Die Informationen sind alle frei verfügbar. Wer sich informieren und wirklich wissen möchte, worum es beim Thema Rassismus und Diskriminierung geht, hat freien Zugriff auf Bücher, Filme, Videos, Podcasts, Magazine in allen Sprachen und Formaten. Die BPoC-Community hat seit Jahren immense Arbeit geleistet und uns Diskriminierung und Rassismus bis ins Detail aufgeschlüsselt und erklärt.
"Wir müssen auch unseren Eltern die Stirn bieten"
Das Problem ist nicht, dass das Wissen nicht vorhanden wäre. Das Problem ist, dass wir weissen Menschen nicht zuhören wollen. Dass wir es nicht ertragen können, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Stell dir vor, wie absolut frustrierend es sein muss, zuzusehen, wie Menschen getötet werden, weil sie dieselbe Hautfarbe haben wie du, um dann von einer weissen Person zu hören: «Ja, aber all lives matter!». Es geht jetzt nicht um dich, nicht um mich, nicht um uns. Klar sind alle Leben wichtig, aber unseres steht nicht Tag für Tag unter Beschuss, wir sind in unserem Leben nicht Tag für Tag den diskriminierenden Strukturen ausgesetzt, die fest in unserer Gesellschaft integriert sind. Und darum reden wir gerade nicht über unsere Leben – und das ist okay so.
Natürlich möchte ich hoffen, dass wenigstens die HipHop-Community bemüht ist, sich gegen Rassismus einzusetzen. Betrachtet man die vielen schwarzen Instagram-Bilder, kann man hoffen, dass ein gewisser Wille dazu vorhanden ist. Das heisst aber auch, dass wir lernen müssen, diese Haltung konkret im Alltag umzusetzen. Das bedeutet: Unseren Eltern die Stirn bieten, wenn sie rassistische Sprüche klopfen; etwas sagen, wenn wir auffällige Polizeikontrollen oder SBB-Ticketkontrollen bei BPoC beobachten; im Freundeskreis den Mund aufmachen, wenn das N-Wort gebraucht wird; etwas sagen, anstatt mitlachen, wenn Mitarbeiter*innen rassistische Witze reissen; Events boykottieren, die für rassistische Eingangskontrollen bekannt sind oder gar rassistisches und kolonialistisches Gedankengut zelebrieren (Fasnacht, I’m looking at you!).
Und kommt mir nicht mit: «Mein Homie ist schwarz und er hat gesagt, ich darf ihm das N-Wort sagen.» Schön für deinen Homie, wenn er damit kein Problem hat. Die Frage ist aber: Warum solltest du dieses Wort, das so viel Hass, Diskriminierung und Schmerz mit sich bringt, überhaupt gebrauchen wollen und dann noch für einen Menschen, den du gerne hast?
"Oberflächliche Artikel bringen dem LYRICS Magazin nur Klicks und ein gutes Gefühl"
Unser «Aktivismus» ist nichts wert, solange wir ihn nur so gestalten, wie es für uns angenehm ist. Denn wenn wir ganz ehrlich sind, sagen uns BPoC seit Jahren, wie wir helfen können. Wir möchten es einfach nicht hören, denn die Antwort ist nicht angenehm oder trendy auf Instagram. Gegen Rassismus aufzustehen ist anstrengend und unangenehm. Es geht darum, das eigene Denken und Handeln laufend zu hinterfragen, Kritik und neue Perspektiven ernst zu nehmen, die eigenen Privilegien einzugestehen und Verantwortung zu übernehmen.
Und damit fangen wir am besten direkt bei uns selber an. Auf Twitter wurde die Kritik formuliert, dass das LYRICS Magazin ein «Culture Vulture» – also ein Aasgeier – sei, der sich an der schwarzen HipHop-Kultur bedient, ohne der Community etwas zurückzugeben oder für sie einzustehen, wenn es hart auf hart kommt. Damit lag der Twitter-User nicht falsch. Es ging tatsächlich erschreckend lange, bis sich die «grösste HipHop-Plattform der Schweiz» zu den Geschehnissen in Minneapolis äusserte.
"Einer unserer Autoren hat BPoC als «farbig» bezeichnet"
Im Chat des Redaktionsteams war man sich schnell einig, dass wir uns zum Thema äussern wollen. Es folgten eine kurze Übersicht, wie sich Rapper*innen mit den Demonstrant*innen solidarisieren und ein Listicle-Artikel mit Zitaten aus Tracks über Polizeigewalt. So wichtig Berichterstattung zum Thema auch sein mag, damit ist es halt einfach nicht getan. Schlussendlich helfen solche Artikel nur uns, da wir uns als Magazin nun auf die Schulter klopfen können und wir Klicks für oberflächliche Artikel erhalten, die das Thema behandeln, als ginge es um alltägliche News und nicht um ein Problem unter dem die HipHop-Community, die wir so lieben, massiv leidet.
Es geht noch weiter: In unserem ersten News-Artikel zu unserer Bewegung wurden BPoC zweimal als «farbig» bezeichnet. Ein Begriff, der massiv rassistisch & kolonialistisch geprägt ist. Dies wurde inzwischen geändert, zeigt aber die Problematik sehr gut auf: Natürlich hat unser Autor diesen Begriff nicht gebraucht, um absichtlich rassistisches Gedankengut anzuwenden. Er wusste schlicht nicht um die historische Prägung des Wortes. Aber dieser Vorfall zeigt, dass wir noch viel zu lernen haben. Wenn wir uns wirklich für das Leben unserer nicht-weissen Mitmenschen interessieren wollen, sind wir in der Pflicht, uns dieses Wissen anzueignen und uns gegenseitig zu kritisieren, so dass wir den betroffenen Menschen wenigstens das mühsame, ständige Erklären ersparen können.
Aus dieser Diskussion ist schliesslich die Frage entsprungen, ob denn Begriffe wie «PoC» für unsere Leserschaft geeignet sind, da sie kompliziert wirken und nicht alle Leser*innen erreichen. Klar, aus wirtschaftlicher Sicht macht es Sinn, über Rassismus so zu schreiben, dass es für uns und unsere grösstenteils weisse Leserschaft möglichst angenehm und ansprechend ist. Das ist aber absolut kontraproduktiv, wenn es darum geht, wirklich etwas zu bewirken.
"Wenn du dich dabei schlecht fühlst: gut so"
Denn sind wir mal ehrlich: Weisse HipHop-Fans haben keine Mühe damit, komplizierte Verses mitzurappen oder sich den angesagten Slang der afro-amerikanischen Community anzueignen. Da kann die Einführung von ein paar wichtigen Begriffen nicht zu viel verlangt sein. Denn wer seinen Musikgeschmack, sein Hobby oder gar seinen Lebensstil an einem Musikgenre ausrichtet, das direkt aus der Community der BPoC stammt, der kann auch etwas zurückgeben – zum Beispiel dadurch, zuzuhören, ernst zu nehmen, das eigene Handeln zu hinterfragen und seine Sprache anzupassen.
"Rassismus ist kein Feelgood-Thema"
Also los, google «BPoC», google «Tone Policing», «White Saviorism», «White Tears», «White Privilege» und alles, was dir unterwegs begegnet. Und da Rassismus und Polizeigewalt in der Schweiz genauso ein Thema ist: Google Mohamed W Baile, Wilson A. und Mike Ben Peter. Lies das Buch «Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen» von Alice Hasters oder «Exit Racism» von Tupoka Ogette, schau dir Trevor Noahs Videos auf YouTube an, lies diesen Text von Jasmina Kuhnke oder schau dir «Dear White People» auf Netflix an. Und wenn es dir dabei eiskalt den Rücken runter läuft, wenn du dich dabei schlecht fühlst: gut so. Denn genau darum geht es. Rassismus ist kein Feelgood-Thema.
"Immerhin können wir uns aussuchen, wann wir uns mit Rassismus auseinandersetzen wollen"
Im besten Fall ist dir das Lesen dieses Texts genauso unangenehm, wie mir das Schreiben unangenehm ist. Das müssen wir jetzt alle zusammen einfach aushalten, um uns richtig solidarisieren zu können. Auch ich habe schon zu oft unüberlegt geredet oder gehandelt. Auch ich muss immer wieder dazulernen und meine Denkmuster hinterfragen. Aber hey, das ist okay, das gehört zum Prozess. Und wenn uns BPoC bisher eines gezeigt haben, dann dass sie verdammt viel Geduld mit uns haben. Also los, frag nach, interessier dich, mach es dir ungemütlich. Wenigstens kannst du dir aussuchen, wann du dich gerade damit auseinandersetzen möchtest, während Betroffene immer einer rassistischen Gesellschaft ausgesetzt sind.
"Nein, meine weisse Meinung braucht es wahrscheinlich nicht"
Nichts führt am unangenehmsten Bekenntnis vorbei. Es ist Tatsache, dass eine weisse Person aus einer komplett weissen Redaktion diesen Artikel schreibt. Und das auf einer HipHop-Plattform. Die Idee, den Betroffenen des Rassismus eine Plattform für ihre Stimmen zu bieten, stand beim LYRICS Magazin im Raum, trotzdem haben wir uns offensichtlich nicht bemüht, diese Idee innert sinnvoller Zeit umzusetzen. Sonst wäre dieser Artikel jetzt nicht von mir geschrieben worden. Um auf meine anfängliche Frage zurückzukommen: Nein, meine weisse Meinung braucht es wahrscheinlich nicht. Aber es braucht die Meinungen derer, die betroffen sind. Das heisst, dass es jetzt an der Zeit ist, unsere Plattform sinnvoll zu nutzen.
"Es ist an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen"
Wenn du also als BPoC von Rassismus betroffen bist oder Freund*innen hast, die es sind, dann melde dich bei uns. Es ist an der Zeit, dass eure Stimmen gehört werden. Sei es, um von euren Erfahrungen zu erzählen, auf eure Bedürfnisse aufmerksam zu machen oder einfach nur Frust abzubauen. Und bitte, kritisiert uns. Kritisiert auch diesen Text, gerade diesen Text. Denn die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass auch dieser Text von diskriminierendem Gedankengut geprägt ist und es ist an der Zeit, Verantwortung dafür zu übernehmen.
Wenn wir der Grausamkeit des Rassismus wirklich ein Ende setzen wollen, dann muss all das sein. Wenn wir Gerechtigkeit für alle Menschen wollen, im Frieden miteinander leben wollen, dann führt kein Weg daran vorbei. No Justice, no Peace.
#blacklivesmatter
Grosser Dank an Ubah Muxumed für deine Hilfe, Meinung & Freundschaft