Kaut man zum wiederholten Male schwer verdauliche Rap-Kost wider, fällt auf, dass die meisten Kontroversen des modernen Musikbusiness im Zeichen desselben Wandels stehen: Der Digitalisierung. Vor 15 Jahren hätte mich mein Gegenüber in einer Diskussion über Major- vs. Indie-Labels im Endeffekt mit einer Darstellung des Sachverhalts wie «kapitalorientierte Grosskonzerne vs. freigeistige Künstler- Kollektive» vom Platz gefegt. Doch haben die Mechanismen der Digitalisierung in den vergangenen Jahren die Machtgefüge verschoben. Major- und Indie-Label begegnen sich mittlerweile in mehreren entscheidenden Belangen auf Augenhöhe.
Nachhaltige Karrieren
Die entscheidenden Fragen drehen sich aber um die Philosophie, welche die Label-Mitarbeiter im Umgang mit ihren Künstlern verfolgen. Welche Freiheiten geniesst der Künstler? Welche Termine und Leistungsvereinbarungen hat er oder sie einzuhalten? Nimmt das Label Einfluss auf den Output des Künstlers? Fragen, deren Antworten nicht systematisch in den AGBs von Universal oder Sony aufgelistet werden, sondern von jedem Team, welches mit Musikern zusammenarbeitet, anders ausgelegt werden können. Schlussendlich ist jedes Label profitorientiert. Es liegt im Interesse der für die Künstler zuständigen Label-Mitarbeiter, dass deren Protegés mit ihrer Musik durch die Decke gehen. Man kann dies erreichen, indem man dem Künstler unzählige Vorschriften aufhalst und peinlichst genau darauf achtet, dass jede Zeile seiner Lieder publikumskonform und gut zu vermarkten ist. Stellt man sich dabei geschickt an, lässt sich mit besagtem Künstler für eine ganze Weile Geld machen. Bis der zeitweilige Hype vorüber ist. Danach gehört das Alteisen auf den Schrottplatz. Ich gehe davon aus, dass profitorientierte Geschäftsmänner längerfristige Erfolge anstreben. Möchte man, dass die eigenen Künstler zu Ikonen der Branche werden, wählt man eine andere Vorgehensweise. Den Musikern muss das nötige Vertrauen und genügend Zeit entgegengebracht werden, so dass diese sich entwickeln und nicht nur den momentanen Hype, sondern auch viele weitere Jahre an der Spitze der Charts überstehen können. Wer glaubt, dass die kommerzversessene Firmen-Philosophie der Majors ihren Künstlern keinen Freiraum lässt, muss sich irren. Major-Labels befinden sich längst nicht mehr in der Position des allmächtigen Sklaventreibers, falls sie jemals eine solche innehatten. Soziale Medien, Streaming-Plattformen und weitere neue Medien erlauben es selbst dem winzigsten Indie-Label, eine Vielzahl von Menschen zu erreichen und ihre Künstler angemessen zu positionieren und zu vermarkten. Musik wird per Knopfdruck über Spotify oder Apple Music direkt zum Konsumenten geliefert. Musikvideos und Fotos des Künstlers verbreiten sich über Online-Plattformen wie ein Lauffeuer. So kann vergleichsweise schnell und einfach eine Aufmerksamkeit entfacht werden, welche noch vor zehn Jahren nur mit den Mitteln eines Major-Labels verwirklicht werden konnte.
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Name, Erfahrung und Connections
Indie-Labels, die einem Major finanziell nicht annähernd das Wasser reichen können, haben heute die Möglichkeit, ihre Künstler ebenso bekannt zu machen wie jene eines Majors. Musiker der Neuzeit sind sich dessen bewusst und entscheiden sich oft genug für Major-Deals, da deren Namen noch immer hohes Gewicht haben. Majors nehmen gestandene oder zumindest aufstrebende Künstler unter Vertrag, um mit ihnen den nächsten Schritt zu gehen. Ein Schritt in Richtung internationale Klasse oder gar in Richtung nationale Kultfigur. Majors haben jahrzehntelange Erfahrung in der Branche, die entlang eines weltweiten Netzwerks an Beziehungen erbaut ist. So ist es ihnen möglich, Zusammenarbeiten unter ihren Künstlern quer über die Erdkugel hinweg zu fördern und deren Musik in verschiedensten Ländern zu platzieren. Künstler, welche sich ganz oben an der Spitze etablieren wollen, können davon nur profitieren. Major und Indie-Labels sind (noch) nicht auf gleicher Stufe anzusiedeln, doch gibt es keine übermächtige Ungleichheit mehr zwischen den beiden Institutionen, die vermuten lassen würde, dass die Grossen ihre Machtposition ausnützen.
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Text: Dominik Müller
Die Vorteile für einen jungen, aufstrebenden Musiker sind gross, bei einem Major zu unterschreiben – Reichweite, Publicity und allem voran finanzielle Unterstützung bei der Realisierung von Projekten sind wertvolle Bestandteile eines Durchbruchs. Doch wohin bricht ein junger Künstler durch? Leider allzu oft in den Mainstream. Und das macht durchaus Sinn. Ein Major-Label ist kein barmherziger Samariter, keine Spendenorganisation, die bedingungslos Geld in Künstler pumpt. Es ist ein Unternehmen. Ein Unternehmen, das wie jedes andere auch primär das Ziel verfolgt, nicht bankrott zu gehen – genauso wie Indie-Labels auch, soll an dieser Stelle gesagt sein. Doch das Major-Label wäre nicht «major», wenn es sich nicht im Mainstream bewegen würde, was mehr bewegte Geldsummen, mehr Exposure und mehr Abhängigkeit vom Erfolg der eigenen Künstler bedeutet – ein entscheidender Unterschied zum Indie-Label, welches sich oft in Nischen bewegt und sich mit diesen Nischen finanziert. Hier ist jedoch Vorsicht geboten: Es gibt unzählige Indie-Labels mit den verschiedensten Herangehensweisen: Von sehr kommerzorientiert bis zu völlig alternativ, von äusserst erfolgreich, teilweise in majorähnlichen Sphären situiert wie Bakara in der Schweiz oder Chimperator in Deutschland, bis zu völlig unbekannt.
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Majors und der Mainstream
Der Anspruch an den Erfolg der gesignten Musiker eines Major-Labels ist gross. Böse Zungen würden sogar behaupten, dass der Hype eines Künstlers teilweise bis zur Irrelevanz ausgeschlachtet werde, doch in Übertreibungen will ich mich nicht begeben. Dennoch scheint ein Körnchen, oder auch ein ziemliches Korn an Wahrheit hinter diesen Anschuldigungen zu sein. Der Erfolg eines Musikers ist Profit des Labels und wenn für ein Major-Label nur der Erfolg der breiten Masse akzeptabel ist, so ist ein Künstler auch gezwungen, für die breite Masse abzuliefern, sofern er seinen lukrativen Label-Deal nicht riskieren will. Hier greift das Stichwort des Authentizitätsverlustes. Ein Künstler, der primär Erfolg sucht, lässt schnell die Seele auf dem Weg zurück.
Künstlerische Entfaltung bei Indies
Natürlich ist auch bei Indie-Labels das Ziel, erfolgreiche Musiker herauszubringen, jedoch ist die Priorität nur selten der Mainstream. Dies heisst nicht, dass Künstler, die von Indie-Labels gesignt sind, sich nicht im Mainstream bewegen können, sondern lediglich, dass der «Erfolgsanspruch», oder die «Erfolgserwartung» bei Indie-Labels tendenziell weniger hoch ist. Vielmehr wird dem Künstler nur selten oder zumindest weniger stark eine Linie vorgeschrieben, die er zu fahren hat – es scheint eher eine «laissez-faire»- Attitude zu herrschen.
Erfolg durch Authentizität
Die Sensation Yung Hurn hat gezeigt, wie diese Strategie funktionieren kann: Mit Indie-Label Live From Earth im Rücken, welches in gewissen Aspekten mehr erfolgreiche Eigenmarke und Künstlerkollektiv zu sein scheint. Der Wiener hat in einer Nische begonnen, diese Nische grossgemacht und sich gleichzeitig musikalisch nicht verstellt. Und interessanterweise sind es oft die Indie-Künstler, die förmlich vor Authentizität sprühen, das beweist nicht zuletzt Yung Hurn. Auch Capital Bra, Cro, Ufo361 oder die 187 Strassenbande sind prominente Beispiele aus der Deutschrap-Szene, die mit ihrer eigenen Schiene Wegbereiter gewesen sind für vieles, was aus der Szene danach folgte. Doch diese Wegbereiter haben nicht nur revolutionäre, neue Soundbilder geliefert, sondern auch den Beweis, dass es möglich ist, an die absolute Spitze des Deutschraps zu gelangen ohne Major-Label im Rücken – und haben mit diesem Beweis einen regelrechten Selfmade-Trend gestartet. Gerade in Zeiten von Soundcloud und Co. braucht es lediglich Retweets, Reposts und Verlinkungen von den richtigen Leuten, um der eigenen Karriere den entscheidenden Push zu geben. Authentizität ist, zumindest für mich, das höchste Gut der Musik und es scheint, als würden Indie- Labels diese stärker unterstützen, indem sie den Erfolg im Mainstream nicht zuoberst auf die Prioritätenliste setzen. Und obwohl eine «laissez-faire»-Attitude auch bei Major-Labels und ihren Schützlingen zu finden ist, so sollte es der Kunst und Kultur wegen die unangefochtene Norm sein.
Text: Sergio Scagliola