Die Anfänge der Punkgeschichte liegen in den 60ern. Was heute als Proto-Punk bezeichnet werden kann, wurde damals polizeilich verfolgt. The Kingsmen setzten mit «Louie Louie» (dem ersten Song in den Charts, der ein «Fuck!» beinhaltete – der Drummer hatte seinen Drumstick fallengelassen und geflucht), einen Grundstein zwischen Rock’n’Roll und Proto-Punk. Das FBI startete eine Investigation wegen möglicher obszöner Texte innerhalb der eher gemurmelten, verzerrten Vocals, die jedoch nicht weiterverfolgt wurde. Die wohl wichtigste Station vor dem Punk war jedoch The Velvet Undergrounds «White Light, White Heat», ein avantgardistisches, experimentelles Projekt mit offensichtlichen Punk- und Noise-Einflüssen, lange Zeit bevor diese Begriffe überhaupt etabliert wurden. «White Light, White Heat» war geprägt von Verzerrung, Frontmann Lou Reeds halbverschluckten Vocals und hörbarer Rebellion gegen musikalische Stereotypen. Darunter «Sister Ray», ein siebzehnminütiger Song, den sich der Soundingenieur nicht einmal anhören wollte. Lou Reed sagte über «Sister Ray»: They asked us when it ends? We didn’t know when it ends. That’s when it ends. Und dann – gegen Ende der Siebziger – hat es erst richtig angefangen. Eine regelrechte Punk-Explosion mit Hymnen, die bis heute geblieben sind. The Ramones, Sex Pistols, The Stooges, Patti Smith. Heutige Grössen inmitten ihres Durchbruchs.
Punk war die Ablehnung schlechthin. Auf politisch-anarchistischer Ebene gegen Eliten in den verschiedensten Systemen und gegen den Staat. Auf gesellschaftlicher Ebene gegen soziale Normen, an die man sich zu halten hätte und musikalisch gegen das Fundament, das von Rock’n’Roll gelegt wurde. Punk war musikalisch eine Abgrenzung von allem, was bisher existiert hatte. Keine saubere, möglichst wohlklingende, dynamische Produktion, keine extraordinären Instrumental-Leistungen, keine Texte, die nirgends anecken. Verzerrung wurde zu einem Stilmittel, Instrumente wurden auf die grundlegende Funktion zurückgeführt, die passenden Klängen zu fabrizieren, statt individuelle Virtuosität an oberste Stelle der Prioritätenliste zu stellen. Die Vocals wurden mehr zur zusätzlichen Tonspur in einem Ensemble als die Hauptrolle in einem Song.
«Punk ist musikalisch nicht mehr aktuell und das ist auch gut so. Es ist die Stimme einer gesellschaftlichen Unzufriedenheit, mit der wir uns heute nicht mehr identifizieren können. Doch die Ideologie hinter dem Begriff Punk lebt weiter.»
Heute ist Punk fast verschwunden. Auch wenn noch Releases erscheinen, so sind diese eher ein Nachhall einer Zeit, die für unsere Generation nur schwer greifbar ist. Punk ist musikalisch nicht mehr aktuell und das ist auch gut so. Es ist die Stimme einer gesellschaftlichen Unzufriedenheit, mit der wir uns heute nicht mehr identifizieren können. Doch die Ideologie hinter dem Begriff Punk lebt weiter. Und ich sehe sie in gewissen Aspekten sehr stark in einem Subgenre des HipHops: Newschool. Doch an dieser Stelle muss differenziert werden. Denn es ist nicht ein Subgenre, das eine Punkideologie in sich trägt, sondern eine Handvoll ausgewählter Künstler. Travis Scott als Punk zu bezeichnen, wäre nicht ganz richtig, zu perfektionistisch ist die Produktion, zu wenig roh und rau ist das Soundbild. Es geht mehr um musikalische Outcasts, Künstler, die sich nur schwierig schubladisieren lassen. Beispiele: Sheck Wes, Yung Lean, Lil Peep und – wenn man die Schweiz betrachten will – COBEE, in Ansätzen. Besonders interessant dabei ist, dass genau diese Künstler gerne als Teil der New Wave bezeichnet werden, ein Begriff aus den Siebzigern und ein früher Name für die Punkbewegung.
Sheck Wes ist für mich mit seinem Album «Mudboy» das Paradebeispiel eines musikalischen Outcasts im HipHop. Und wenn man von Sheck Wes spricht, dann dürfte der Elefant im Raum nicht ignoriert werden – sein Breakout-Hit «Mo Bamba». Genau das soll hier jedoch geschehen, denn «Mo Bamba» ist tatsächlich das schwächste Argument für eine Punkideologie in «Mudboy». Das Album wurde inmitten des Hypes um einen einzelnen Track völlig übersehen. Und das zu Unrecht, denn es bringt musikalisch etwas Unerwartetes – gerade für ein Debutalbum – mit: Irritation. «Mudboy» ist anstrengend zu hören und erinnert mich in der scheinbaren Konzeption an The Velvet Undergrounds «White Light, White Heat». Dessen «Sister Ray» kommt über eine Viertelstunde ohne Bass aus, während in «Mudboy» die Instrumentals so simpel gestaltet sind, dass auch hier das Gefühl erweckt wird, dass etwas fehlt. «Sister Ray» wirkt mager und dennoch dynamisch und mit «Mudboy» verhält es sich ähnlich. Der Introtrack «Mindfucker» bringt dies gut zur Geltung. Ein weiterer Aspekt, der an Punk erinnert, ist Sheck Wes’ vermeintlich halbherzige Vocal Performance. Auf «Never Lost» schwebt die Stimme über den minimalistischen Beat in einer Art und Weise, die nur beabsichtigt sein kann. Stets eine halbe Note daneben, stets nicht ganz perfekt auf dem Beat – obwohl Tracks wie «Wanted» beweisen, dass es Sheck Wes keinesfalls an Taktgefühl mangelt. Punk ist laut und schrill – Sheck Wes nicht. Dennoch teilen beide eine gewisse Gleichgültigkeit und Ablehnung von Perfektion im Stimmeinsatz. Ein weiterer Aspekt ist ein Stilmittel gewordenes, ursprüngliches Problem der Technik: Übersteuerung und Distortion. Markenzeichen des Punks und neu entdeckt und umgesetzt von XXXTENTACION, Ski Mask The Slump God, Denzel Curry und auch Sheck Wes.
«Punk sei laut, sei lediglich Lärm und habe nichts mit Musik zu tun. Und diese Kritik erleben heute diverse Newschool-Künstler, die sich von einem stereotypischen Bild von HipHop wegbewegen wollen.»
Alle diese Aspekte lassen sich unter einer grösseren Thematik zusammennehmen: der Idee, wie man Musik macht. Punk war eine Ablehnung des wohlklingenden Rock’n’Rolls und wurde von den Zeitgenossen scharf kritisiert. Punk sei laut, sei lediglich Lärm und habe nichts mit Musik zu tun. Und diese Kritik erleben heute diverse Newschool-Künstler, die sich von einem stereotypischen Bild von HipHop wegbewegen wollen. HipHop ist in dieser Weise zu protektionistisch. Zehn Jahre sind nötig, dass Newschool als Subgenre mehr oder weniger gleichgestellt ist mit «Real Rap», aber auch hier erfolgt die Gleichstellung nur, wenn der Künstler nicht zu fest aneckt. Alles, was sich musikalisch zu weit aus dem Fenster lehnt, wird entweder nicht beachtet oder als talentfrei abgestempelt. «Mudboy» ist rau, dreckig, roh, ungeschliffen und das soll es auch sein. Und beabsichtigt oder nicht, meiner Meinung nach hat schon lange nichts mehr musikalisch so keinen Fick gegeben wie es «Mudboy» tut. Seine Lorbeeren hat es sich dennoch nur in Reviews von Musikjournalisten geholt.
Yung Lean und Lil Peep verfolgen einen anderen Ansatz, der in gewisser Weise mit Punk vergleichbar ist. Sie ziehen direkte Inspiration aus der Sonorität früherer Punk-, Rock- und Metal-Alben. Auch Denzel Curry könnte hier als Beispiel angeführt werden. Anders als Sheck Wes beispielsweise grenzt sich die Musik nicht offensichtlich vom HipHop ab, sondern fährt einfach eine eigene Schiene. Es ist weniger Protest gegen die musikalische Norm, sondern mehr Musik, die nach Punk klingt. Lil Peep wird vor allem aufgrund seiner Texte als Inbegriff des Emo Raps bezeichnet, die Instrumentals allerdings erinnern mit schweren Gitarrenriffs und den melancholischen, fast schon weinerlichen Vocals eher an Pop-Punk-Bands wie Blink-182, My Chemical Romance oder Green Day. Dazu kommt eine punktypische Charakteristik, die bereits angesprochen wurde: Übersteuerung und Verzerrung oder Distortion. Stilmittel, die Lil Peep stets einsetzte, um ein ziemlich unverwechselbares Soundbild zu kreieren. Yung Lean treibt diese Schiene gar noch weiter mit seinem Nebenprojekt «Jonatan leandoer127», das musikalisch nicht mehr viel mit Trap oder HipHop zu tun hat. Das ist irgendetwas zwischen Artpop und Punk. Bemerkenswert ist der Track «Off With Their Heads», ein ziemlich rustikaler Punkverschnitt, der eine essenzielle Charakteristik der Bewegung der späten 70er-Jahre einfängt: politische, anarchistisch angehauchte Gesellschaftskritik. Yung Leans Alter Ego ist ein Zollen von Respekt an eine Musikströmung, die ihn offensichtlich ziemlich inspiriert hat und ein Nebenprojekt eines HipHop-Künstlers, das tatsächlich als Punk bezeichnet werden könnte – nicht nur ideologisch.
Vergleicht man Parallelen zwischen HipHop und Punk in der Schweiz, so muss zuerst ausgeholt werden. Die Siebzigerjahre waren hierzulande kulturelles Brachland, von Proto-Punk keine Spur und die Rote Fabrik umkämpftes Gebiet. Zürcher Jugendliche forderten die Möglichkeit zur Jugendkultur, zu einem Gegenstück zum Opernhaus in Form eines autonomen Jugendzentrums. Dies mit Protesten, Aktionen und Demonstrationen fast im Wochentakt. Inmitten der Schweizer Jugendunruhen, die im Jahr 1980 mit den «Opernhauskrawallen» losgetreten wurden, blühte eine junge Schweizer Punkkultur auf. Bands wie die Nasal Boys waren frühe Vertreter, unmittelbare Nachfolger wie Kleenex oder Mother’s Ruin hatten sogar Erfolg ausserhalb der Landesgrenzen. Die späten Siebzigerjahre waren hochgeladenes Terrain mit einem Staat, der die Anliegen der Jugendlichen teils völlig ignorierte und Jugendlichen, die ihrem Frust freien Lauf liessen. Und Punk die Stimme dieser unzufriedenen Jugend.
Heute gibt es autonome Jugendzentren. Und sie geniessen nicht mehr die Relevanz, die sie vor einigen Jahrzehnten hatten. Sie sind kein Schauplatz von Kampf um Kultur mehr, sondern gewöhnliche Konzertlocations, Eventräume und Ausstellungsorte. Rebellion heute geschieht unierter, als es früher der Fall war. Heutige soziale Problematiken wie Sexismus und Rassismus sind kein Streitfall innerhalb verschiedener Generationen, sondern primär innerhalb verschiedener Denkweisen, ohne dass das Alter eine grosse Rolle spielt. Man geht nicht auf die Strasse gegen eine ältere Generation, von der man nicht ernst genommen wird, sondern für Probleme, die alle betreffen.Der Vergleich zwischen Punkkultur und Newschool-Kultur in der Schweiz gestaltet sich unter anderem deshalb um einiges schwieriger. HipHop ist eine weniger dominante, weniger dringende Stimme, als es Punk war. Das soll nicht als Diskreditierung der HipHop-Kultur verstanden werden, sondern als Betonung, wie wichtig Punk für die Jugend der Siebziger und die Musik generell war. Dennoch bezeichnet sich Nativ im Gespräch mit mir für die Coverstory dieser Ausgabe als «Neuzeit-Punk». Und damit hat er nicht Unrecht. Sowohl musikalisch als auch ideologisch sind die Punk-Überreste oder ein Keim einer Punk-Reinkarnation rund um Bern zu finden. COBEE spielt auf «Chaos» musikalisch mit Punk-Einflüssen, orientiert sich dabei aber eher an einer Lil-Peep-Ästhetik mit strammen Gitarrenriffs, Übersteuerung und Distortion auf den Vocals. Nativ und Buds Penseur gehen in eine andere Richtung und betreiben Rebellion gegen dominierende Systeme innerhalb der Musikindustrie. Es ist keine Kritik an einer älteren Generation wie in den Jugendunruhen, sondern Kritik an einem System aus Normen und Erwartungen, wie man zu leben habe, das durch den Kapitalismus unterstützt wird. Psycho'n'odds geht es um eine uneingeschränkte Kultur und um künstlerische Verwirklichung, ohne an gesellschaftliche Normen gebunden zu sein. Das ist sicherlich systemkritisch, reflektierend und rebellisch, ob dies allerdings Punk ist, ist diskutabel.
Abschliessend kann man festhalten: Das Hauptproblem zwischen den Begriffen Punk und HipHop ist etwas, was dem HipHop oft fehlt. Radikalität – gerade in der Schweiz. Eine Punk-Wiederauferstehung ist jedoch auch kein unbedingt erstrebenswertes Ziel. Punk war eine der gesellschaftlich wichtigsten musikalischen Strömungen, genauso wie es HipHop ist. Punk war die Stimme der Unzufriedenheit und jeder zeitgenössische Conscious-Rapper profitiert von der Radikalität der Punkkultur, denn sie hat Tür und Tor geöffnet, Sozialkritik ungefiltert äussern zu können. Die «Newschool-Punks», die in diesem Artikel betrachtet werden, gehen allerdings anders mit Punk um. Es ist nicht einfach nur eine kulturelle Bewegung und Stimme der Jugend, wie es HipHop auch ist. Sheck Wes, Yung Lean und Konsorten tragen in gewisser Art und Weise ein Stück der Punk-Ideologie in sich. Sei es darin, sich musikalisch vom HipHop abzugrenzen, wie es Punk von Rock’n’Roll getan hat. Sei es darin, tatsächlich ein Pop-Punk-Album zu produzieren oder sei es darin, sich die Punk-Ästhetik richtiggehend einzuverleiben, die Musik als Vorbild zu nehmen und sie im eigenen Soundbild als HipHop umzusetzen.Nichtsdestotrotz sind sie keine Punks. Und das ist der entscheidende Unterschied. Sie sind Aussenseiter in einer protektionistischen HipHop-Kultur und keine Kulturrevolutionäre der Siebzigerjahre. Sie sind lediglich Individuen mit Mut zur Hommage und zur Abgrenzung. Wenigstens für das sollten sie ein wenig mehr Liebe bekommen.Text: Sergio Scagliola[sc name="mehr lesen" ]