Die Leak-Kultur ist keine neue Erscheinung. Sie beschränkt sich auch keineswegs auf dem HipHop nahestehende Genres, sondern ist mit der Kommerzialisierung und insbesondere Digitalisierung der Musikindustrie gekommen. Dennoch ist es auffällig, wie viel Material von A-Klasse-HipHop-Künstler*innen im Netz landet, während andere Genres hierbei eher verschont bleiben, zumindest in diesem Ausmass und in der Frequenz. Alle paar Monate wird ein unveröffentlichtes Kanye-Album geleakt, Cartis «Whole Lotta Red» wurde fast ein Jahr vor Release in verschiedensten Zusammenstellungen von unveröffentlichten Tracks ins Internet gestellt und wer Young Thugs Leaks sucht, wird auf mehrere Tage Hörmaterial stossen. Und niemand scheint sich riesig daran zu stören. Wie kann es also sein, dass eine ganze Szene scheinbar gerne wegschaut, wenn es um geleaktes Material geht?
Leaks im heutigen Sinne sind eine Erscheinung, die mit dem Wechsel vom analogen auf das digitale Medium zur Musikwiedergabe überhaupt erst relevant werden konnten. Das heisst, dass beispielsweise das Rockgenre auf seinem popkulturellen Höhepunkt in den 60er- bis 90er-Jahren gar nie in diesem Ausmass mit diesem Problem konfrontiert wurde. Der Musiksharing-Dienst Napster gilt oft als Kickstarter der heutigen Leak-Kultur. In den 2000er-Jahren musste sich Napster mehrmals Rechtsstreite liefern, weil geleaktes Material über Napster verbreitet wurde.
Die Kanäle haben sich heute verschoben, aber die Art und Weise bleibt die gleiche – Distribution über Online-Plattformen. Dass HipHop aber besonders hart getroffen zu werden scheint, liegt primär an der hohen Relevanz des Genres und dem Fakt, dass wenn ein Leak im Netz landet, dieser auch nach Intervention von YouTube & Co. einfach mehrfach reuploaded wird. Generell gibt es immer wieder Phasen, in welchen viele Leaks von den Streamingdiensten gefühlt auf einen Schlag entfernt werden, nur um einige Tage später wieder auf einem anderen Kanal aufzutauchen. Wer sucht, findet (fast) jeden Leak.
Labels umgehen Piraterie und Leaks primär durch Watermarks, die wie eine digitale Signatur funktionieren. Ein unauffälliger oder für das Gehör nicht hörbarer Ton wird über einen Track gelegt. Diese Strategie richtet sich vor allem gegen Piraterie, allerdings werden Watermarks auch gegen Leaks eingesetzt. In der Bemusterung von Journalist*innen im Vorfeld eines Releases sind die Streams fast immer watermarked und können sogar mithilfe von Bemusterungsplattformen im Falle eines Leaks genau zurückverfolgen, wer für einen Leak verantwortlich ist – aufgrund der digitalen Signatur. Dies verhindert zwar einen Leak über Radiostationen und andere Medien, ist aber für die Verbreitung über das Internet fast irrelevant, da man die Distribution über das Label umgehen und direkt auf die Artists gehen kann.
Dass HipHop-Releases besonders oft von geleaktem Material heimgesucht werden, kann nicht an fehlenden Gegenmassnahmen seitens der Labels liegen. Gerade Kanye West, Playboi Carti und Young Thug, die als Paradebeispiel für einen riesigen Leak-Katalog aufgeführt wurden, sind alle über Umwege bei Major-Labels gesignt, wo ein Leak über das Label fast unmöglich ist. Der Überfluss an Leaks muss also auf andere Aspekte zurückgeführt werden, die hier in vier Teile unterteilt werden sollen.
Digitale Privatsphäre: Leaks sind ein lukratives Geschäft für diejenigen Personen, die den Markt, der sich um diese Nische des Musikmarkts gebildet hat, beliefern können. Deshalb ist es gerade im digitalen Zeitalter nicht sehr verwunderlich, dass ein grosser Teil der geleakten Songs ursprünglich durch Hacker im Netz gelandet ist. Auf YouTube finden sich einige Interviews mit Hackern, die konkret auf Datenklau bei Musiker*innen abzielen. Dabei fällt auf, dass der Zugang zu unreleasten Songs gar nicht allzu kompliziert ist – weil sehr viele Artists beispielsweise
Soziales Umfeld: Weiter werden natürlich nicht nur die Künstler*innen gehackt, fast interessanter für Leaker ist das soziale Umfeld der Artists. Auch wenn sich so vielleicht nicht die fertig abgemischten Einzeltracks veröffentlichen lassen, kann man so unauffälliger an Demos oder Previews kommen. Natürlich entstehen Leaks auch durch das soziale Umfeld, gerade weil der Markt derart lukrativ ist. Wenn einzelne Leaks mehrere Tausend Dollar einbringen können, landet eine vertraulich geschickte Demo schnell im Netz.
Überenthusiasmus: Leaks durch das soziale Umfeld geschehen natürlich nicht nur aus egoistischer Intention, sondern oft durch Enthusiasmus. An einem Song arbeitet nicht nur eine Einzelperson. Producer, Sound Engineers, Management etc. besitzen Aufnahmen, Tracks oder sogar ganze Projekte bereits einige Monate vor Release. In Kombination mit sehr grossem Hype auf diesen Release kann es schnell passieren, dass diese Dateien in einen nur schwer zu kontrollierenden Umlauf kommen.
Absicht und Promotion: Zuletzt existiert auch absichtliche Veröffentlichung von Leaks durch Artists. Dies geschieht meistens nach Erpressung. Radiohead beispielsweise wurde von Hackern um die Veröffentlichung bislang nicht gehörter Demos des Albumklassikers “OK Computer” erpresst, woraufhin sie die Demos einfach selbst geleakt haben. Leaks können auch zur Überarbeitung von Alben, kritischer Anregung und Promotion führen, auch wenn sie nicht von den Artists selbst getätigt werden. Kanye Wests “The College Dropout” war schon einige Monate vor Release hörbar. Die Reaktion Kanyes war eine komplette Überarbeitung mehrerer Tracks und einige Cuts für bessere Struktur, was wiederum zu Gesprächstoff führt.
Schaden und unfreiwillige Gratis-Promo?
Die mögliche Promo, die Leaks mit sich bringen, könnte in der heutigen globalen Release-Landschaft sogar sehr gezielt eingesetzt werden – gerade in einer Zeit, in der Artists den Löwenanteil des Einkommens nicht direkt durch die Musik verdienen und ein genereller Buzz ebenso wichtig ist. Ohne den grossen Labels hier Unterstellungen zu machen, würden sich bestimmte Umstände durchaus für diese Art von Promotion eignen.
Als Beispiel Playboi Carti: Nach «Die Lit» 2018 ist es eine Weile ruhig um Carti, das nächste Album «Whole Lotta Red» wird aber fast 2 Jahre vor dem letztendlichen Release angekündigt. Diese Zeit wird mit einigen Features und einer Single überbrückt. Alle paar Monate einige unreleaste Tracks hören zu können, generiert aber auch Hype – vor allem, wenn die Songs viral gehen wie «Kid Cudi / Pissy Pamper». Leaks sind irrelevant für das Chartgeschäft, können aber innerhalb einer Fanbase die Spannung aufrechterhalten – auch wenn sie nicht durch das Label oder die Artists selbst ins Netz gestellt werden.
In den allermeisten Fällen überwiegt aber der Schaden, den Leaks für die Artists bedeuten. Auch wenn der Leak-Katalog von Young Thug für Fans ein wertvolles Archiv ist, haben die Leaks überhaupt erst dazu geführt, dass ein Song gar nie veröffentlicht wird, was teils sehr schade ist. Das erste Problem sind Samples: Landet ein Song mit einem Sample, welches noch nicht gecleared wurde im Netz, wird der Singlerelease extrem kompliziert und die Rechte für das Sample werden sehr schwierig zu sichern. Generell werfen Leaks ein sehr schlechtes Bild auf die jeweiligen Künstler*innen, sowohl beim eigenen Label als auch bei der involvierten anderen Seite. Weiter ist es auch lästig, wenn der Lieblingstrack des Albums zwei Wochen vor Release geleaked wird. Generell scheint der Überfluss an Leaks aber nicht eine Katastrophe, sondern eher eine Plage für die Industrie zu sein – und offenbart Sicherheitslücken an verschiedenen Stellen auf dem Weg zum Release.
Von Forumposts über Distribution via Napster zu den Leak-Playlists YouTube und Spotify ist man im Aufspüren von Leaks völlig stagniert. Dazu kommt, dass die Leaker kreativer werden. Tarnung als Podcasts, eigene Songs oder suggestive Songtitel sind völlig gängig auf den Streamingdiensten, wobei es auf YouTube nicht einmal nötig ist. Als Resultat bleibt ein massives Archiv für die Konsumenten der Musik, die sich viele Fragen nach der Chance, der Ethik und dem Schaden der Leaks gar nicht mehr stellen müssen – Leaks sind fast selbstverständlich. Und wenn Spotify und Co. mehrere Monate brauchen, um diese Tracks dauerhaft aus ihrer Selektion zu streichen und Leaks sogar in mein persönliches Discover Weekly platziert, existiert vielleicht auch gar nicht so viel Handlungsbedarf.
Unsere Artists in der Schweiz schätzen sich vielleicht ganz glücklich, dass sie nicht dieses Level von internationaler Relevanz haben, um sich ständig mit diesen Problemen herumschlagen zu müssen. Ich würde aber trotzdem meine Passwörter checken...