Mit der #solidaritychallenge macht Nativ auf die Flüchtlings-Situation in Griechenland aufmerksam: Viele Menschen leben in Quarantäne , ohne dabei ein richtiges Zuhause zu haben. Die von Nativ ins Leben gerufene Challenge soll helfen. Ihr Inhalt: Jeder Nominierte soll seinen eigenen Quarantäne-Moment filmen, auf Instagram posten, drei weitere Personen durch Markierung nominieren und einen kleinen Betrag spenden. Auf der zugehörigen Website findet man die wichtigsten Daten zu den Hilfswerken, die Nativ unterstützen möchte. Im Interview erklärt er die Hintergründe der Solidaritätsaktion.
Die Situation in den Camps ist katastrophal und die Menschen brauchen dringend Hilfe. Dass solche Aktionen wichtig sind, ist unbestritten. Was siehst du aktuell als grösste Gefahr für die Menschen in den Camps?
«Die Situation in den Camps verschlimmert sich seit Jahren stetig. Die Camps sind schon lange massiv überlastet. Durch die kurzzeitige Grenzöffnung der Türkei gab es aber nochmals für viele Menschen auf der Flucht die Hoffnung, endlich in die EU zu kommen. Aktuell sind in der Türkei fast 4 Millionen Geflüchtete. Das hat an der EU-Aussengrenze zu unvorstellbaren Ausnahmesituationen geführt. Da die Türkei die Grenzen geöffnet hat und die Leute nicht in der Türkei bleiben können, versuchen nun vier Millionen weitere Menschen via Griechenland weiterzureisen.
«Während dem also viele von uns die Corona-Zeit gemütlich zuhause verbringen, sitzen dort Kinder und alte Menschen dicht gedrängt in kalten Zelten.»
Auch auf die Camps, wie zum Beispiel das Camp Moria auf der Insel Lesbos hat das Einfluss. Moria Ist offiziell für knapp 3'000 Menschen konzipiert, inzwischen leben dort über 20'000 Menschen. Es fehlt an allem: Nahrungsmittel, Infrastruktur, medizinische Versorgung. Für all diese Menschen hat pro Schicht nur zwei offizielle Ärzte.
Durch die aktuelle Corona-Krise sind natürlich auch die Menschen in den Camps betroffen. Unter den Bedingungen in den Camps ist es unmöglich, Quarantänemassnahmen einzuhalten und für die erkrankten Menschen gibt es keine medizinische Hilfe. Während dem also viele von uns die Corona-Zeit gemütlich zuhause verbringen, sitzen dort Kinder und alte Menschen dicht gedrängt in kalten Zelten. Gesundheitliche Krisen wie Corona treffen die Menschen in den Camps im Besonderen.»
Du engagierst dich seit Jahren für die Geflüchteten in Griechenland. Teilweise hast du dich auf den sozialen Medien auch enttäuscht über Spendenaktionen gezeigt, die weniger erfolgreich verliefen, als du es dir vorgestellt hast. Ausserdem hat sich die menschenrechtliche Krise in Griechenland über die Jahre konstant verschlimmert. Wie schaffst du es, dich immer wieder zu motivieren und die Hoffnung nicht zu verlieren?
«In erster Linie liegt Aufgeben schlicht nicht drin, denn wenn wir diesen Kampf aufgeben, geben wir die Menschen in den Camps auf. Aufgeben würde bedeuten, dass wir sie vergessen und wenn wir sie vergessen, verschlimmert sich die Katastrophe.
«Aus meiner Frustration über unser menschliches Versagen entspringt immer wieder viel Kreativität.»
Klar bin ich manchmal frustriert. Man spürt, dass die Leute langsam abgestumpft sind. Es ist auch klar, dass die Corona-Krise hier in der Schweiz das Leben der Menschen mehr betrifft. Trotzdem erhalte ich immer wieder Reaktionen aus der Community, die mir zeigen, dass es noch Menschen gibt, die Hoffnung haben und vom menschlichen Versagen in Griechenland berührt sind. Ausserdem erhalte ich immer wieder Informationen von Leuten vor Ort, die mir regelmässig Bericht erstatten. Ich habe einige Kontakte in Griechenland: Beispielsweise meinen Fotografen Jojo Schulmeister, der das Leben in Moria immer wieder eindrücklich einfängt. Auch diese Augenzeugenberichte motivieren mich, mich weiterhin für diese Sache einzusetzen.
Aber ja klar, manchmal ist es frustrierend. Aber ich finde es immer wieder interessant, dass mich genau dieser Frust auch inspiriert. Aus meiner Frustration über unser menschliches Versagen entspringt immer wieder viel Kreativität. Und aus solchen Momenten schöpfe ich dann die Kraft für Aktionen wie die #solidaritychallenge.»
Seit dem Beginn der Corona-Krise in der Schweiz sind Plakate und Banner von Organisationen wie raiseagainstborders.org zu sehen. Diese fordern unter anderem die sofortige Evakuierung der Flüchtlingscamps. Ich denke wir sind uns einig, dass das wünschenswert wäre, da die Menschen in den Camps dringend in Sicherheit gebracht werden müssen. Ist die Forderung nach Evakuation umsetzbar oder ist dieses Vorgehen nicht realitätsnah?
«Natürlich ist eine Evakuation der Camps zwingend nötig. Die Menschen dort brauchen dringend Hilfe – das kann man nicht leugnen. Ob das auch umsetzbar ist, ist eine andere Frage.
Ich denke, die aktuelle Krisensituation hat sehr eindrücklich gezeigt, was alles möglich ist. Die westliche Welt zeigt im Moment bemerkenswert, welche Massnahmen sie innert kürzester Zeit umzusetzen vermag. Vor Kurzem wären Quarantäne und geschlossene Läden noch undenkbar gewesen. Jetzt entspricht es bereits einer Art Normalität, dass die Leute zuhause bleiben. Der Staat hat plötzlich Milliarden zur Verfügung, um die Wirtschaft zu retten, Infrastruktur wird aufgezogen und Menschen werden flächendeckend aufgeklärt. Spätestens jetzt wissen wir also: Wenn die Schweiz will, dann kann sie. Die Hilfe, die zuvor in Bezug auf die Flüchtlingskrise oder den Klimawandel als nicht umsetzbar bezeichnet wurde, ist jetzt selbstverständlich.
«Der Staat hat plötzlich Milliarden zur Verfügung, um die Wirtschaft zu retten, Infrastruktur wird aufgezogen und Menschen werden flächendeckend aufgeklärt.»
Auch das ist wieder eine Tatsache, die mir Hoffnung macht. Ich hoffe, dass die Menschen jetzt umdenken, da sie jetzt wissen, was alles machbar ist. Es ist wichtig, dass wir die Zeit jetzt nutzen, um uns zu besinnen und dass wir dabei daran denken, dass das in den Camps auch Menschen sind. Menschen, die ein Anrecht darauf haben, vor medizinischen Krisen wie Corona geschützt zu werden – genau wie du und ich.»
«Bei dieser Antwort muss ich sehr aufpassen. Ich möchte nicht, dass meine Antwort anschliessend so ausgelegt wird, dass es aussieht, als ob ich die Pandemie nicht ernst nehme. Natürlich nehme ich sie ernst und ich bin absolut dafür, dass wir die erforderlichen Mittel ergreifen, um diesen Virus gemeinsam zu bekämpfen. Deshalb geht es mir jetzt nicht um die aktuellen Grenzschliessungen, sondern um das Konzept der Grenzen allgemein.
«Der Virus zeigt uns gerade, dass unsere Abgrenzungen künstlich sind und dass wir als Menschen alle von denselben Problemen betroffen sind – und diese lassen sich nicht ein- oder abgrenzen.»
Die Pandemie-Situation zeigt noch einmal gut auf, was schon vor Corona der Fall war: Wir alle sitzen im selben Boot. Wir sind alles Menschen, ob wir nun hier in der sicheren Schweiz sind oder auf Lesbos in einem Camp. Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten wie die Camps oder der Klimawandel betreffen uns alle. Deshalb bin ich nach wie vor der Meinung, dass wir das Konzept der Grenzen nach dieser Pandemie noch einmal überdenken sollten, denn der Virus zeigt uns gerade, dass unsere Abgrenzungen künstlich sind und dass wir als Menschen alle von denselben Problemen betroffen sind – und diese lassen sich nicht ein- oder abgrenzen.»
Das verhärtete Bild von Grenzen wird im Moment zusätzlich verstärkt. Das zeigt sich in der Tatsache, dass gewalttätige Rechtsextreme aus ganz Europa an die griechisch-türkische Grenze gereist sind, um dort die Grenzwache zu unterstützen, gegen Geflüchtete zu hetzen und Journalisten und Freiwillige anzugreifen. Das tun sie ironischerweise auch mit Hilfe illegaler Einreise. Wie ist deine Einschätzung zu dieser Situation?
«Was dort abgeht, ist echt krass. Ich habe auch von meinen Kontakten vor Ort gehört, dass diese Rechtsextremen regelrecht gegen die Geflüchteten und ihre Helfer hetzen. Diese Leute sind gewaltbereit und gefährlich. Wie man so sein kann, ist für mich unbegreiflich. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, was das für uns heisst. Nach meiner Einschätzung könnte dieser Umstand bedeuten, dass die Stimmung in Europa in die eine oder andere Richtung kippt. Ich nehme viele motivierte Menschen um mich herum wahr, die solche Aktionen der Rechtsextremen verurteilen und sich dagegen einsetzen. Wenn die Stimmung in diese Richtung kippt, dann kann man die Rechtsextremen in Griechenland als Idioten abtun und sie vor Ort bekämpfen. Dafür wäre es jedoch zwingend notwendig, dass sich die Regierungen Europas geschlossen gegen solch menschenfeindliche Gesinnungen positionieren. Gegen solches Gedankengut müssen wir und unsere Regierungen geschlossen Stellung beziehen, um zu verhindern, dass sich Einzelne mit dieser Gesinnung bestärkt und sogar noch zu solchen Aktionen berechtigt fühlen. Leider scheint in den Behörden und Regierungen Europas aber das Gegenteil zu passieren.
«Die Regierungen scheinen alles zu tun, um das Bild der Festung Europa weiter zu verstärken.»
Die militanten Aktionen der Rechtsextremen wurden bisher nicht öffentlich verurteilt. Im Gegenteil: Die Regierungen scheinen alles zu tun, um das Bild der Festung Europa weiter zu verstärken. Es ist kein Geheimnis, dass andere EU Länder wie Deutschland eigene Polizisten nach Griechenland schicken, um dort Frontex zu unterstützen. Die Behörden spannen also zusammen, wenn es darum geht, Grenzen zu schützen, tun es aber nicht, wenn es darum geht, Menschen zu schützen. Das müssen wir dringend ändern.»
Stattdessen wird diskutiert, ob Seenotrettung legal sein sollte. Die Problematik ist also sehr anstrengend und teilweise deprimierend. Hast du neben Spendenaktionen und der #solidaritychallenge noch andere Ideen, wie man den Menschen in den Camps helfen kann?
«Die Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, kann schon viel helfen. Das muss aber nicht unbedingt nur im Rahmen von Instagram-Challenges passieren. Das Umdenken und die Inspiration dafür, sich zu engagieren, muss auch im kleinen Rahmen auftreten. So kann man sich zum Beispiel im nahen Umfeld einsetzen, indem man diese wichtigen Themen anspricht, diskutiert und andere dazu motiviert, sich für das Schicksal ihrer Mitmenschen zu interessieren.
«Manchmal scheint die Situation so traurig, dass ich unsicher werde.»
Ausserdem ist genau diese ruhige, zurückgezogene Zeit während der Quarantäne eine gute Möglichkeit, sich in der eigenen Meinung zu stärken. Für mich ist es auch nicht immer einfach. Manchmal scheint die Situation so traurig, dass ich unsicher werde. Aber ich habe zum Glück Menschen in meinem Umfeld, an die ich mich in Phasen der Unsicherheit wenden kann. Dann können wir uns gegenseitig Kraft geben und bestätigen, dass das, was wir tun, und der Einsatz, den wir geben, richtig sind. Das würde ich auch allen empfehlen. Die, die ihre Corona-Zeit als Quarantäne nutzen können, sollten sie nutzen, um sich selber Gutes zu tun und so uns allen und der Gesellschaft Gutes zu tun.»
Die aktuelle Klimabewegung besteht vorwiegend aus Jugendlichen. Um die Pandemie zu bekämpfen sind die alten und vorerkrankten Menschen auf die Solidarität der Jungen und Gesunden angewiesen. Man könnte diese Zeitspanne als Ära der Jungen ansehen. Auch deine Fanbase besteht mehrheitlich aus jungen Menschen. Was würdest du gerade einer jüngeren Person mit auf den Weg geben?
«Mit meiner Plattform sehe ich es auch als meine Verantwortung, für etwas Sinnvolles einzustehen. Man kann die aktuelle Zeit tatsächlich als Ära der Jungen ansehen und ich spüre, wie sie auch viel bewegen. Auch das ist etwas, was mir viel Hoffnung gibt. Ich denke, was ich ihnen auf den Weg geben möchte, hat nicht spezifisch mit den Camps in Griechenland oder dem Coronavirus zu tun, sondern mit einer allgemeinen Haltung im Leben. Ich sehe es nämlich so: Gerade wenn man jung ist, bekommt man oft zu spüren, dass man belächelt wird, dass einen die Leute als weniger normal ansehen oder als Träumer hinstellen, wenn man sich für etwas einsetzt. Genau diesen Jugendlichen möchte ich gerne sagen: Lasst euch eure Träume und Visionen nicht kaputt machen. Die Einzigen, die euch das kaputt machen können, seid ihr selber. Aber wenn ihr etwas gefunden habt, was euren Wertvorstellungen entspricht, wenn ihr spürt, was für euch das Richtige ist und ihr euch eine Meinung gebildet habt, dann lasst euch niemals davon abbringen. Es ist stark, für etwas einzustehen und ich glaube fest daran, dass das unsere Hoffnung ist. Denn wenn wir alle für das einstehen, was wir für richtig empfinden, dann können wir auch etwas bewegen.»