Innerhalb der letzten Dekade sind etliche Alben erschienen, die heute absoluten Kultstatus innehaben. Das reflektieren auch die unzähligen «Albums of the Decade-Lists», die gerade jetzt allgegenwärtig sind. Trap als eigentliches Underground-Phänomen der amerikanischen Grossstädte wurde über die Jahre salon- und vor allem clubfähig gemacht. Und wenn man sich die Listen ein wenig näher anschaut, fällt auf: Das Subgenre scheint auszusterben – zumindest in seinen klassischen Formen.
Natürlich verändert sich jedes Genre, das soll hier nicht der Punkt sein. Aber innerhalb der HipHop-Szene und ganz besonders innerhalb des Subgenres Trap sind grundlegende Veränderungen im Gange, die das Genre, so wie man es momentan kennt, wohl nicht mehr lange existieren lassen werden. Eine erste, völlig banale Veränderung – die Urväter, die den Sound der gesamten zehn Jahre geprägt haben, werden alt. Nicht dass Chief Keef mit 24 Jahren alt wäre, aber nach neun Jahren seit seinem Debüt und einem Output von über 30 Mixtapes und Alben ist es schwierig, an die Klassiker anzuknüpfen, die zu Beginn der Dekade herausgekommen sind. Genauso ist es für einen Future schwierig, ein zweites «DS2» zu kreieren und auch ein Young Thug schafft es nicht, an «Barter 6» anzuknüpfen. Sogar im Fall Travis Scott kann man gut argumentieren, dass «Rodeo» das für die Szene wohl einflussreichste Travis-Scott-Album bleiben wird. Es ist nicht so, dass diese Künstler kurz vor dem washed-up-Status stehen, im Gegenteil. Sie sind auf ihrem Zenit oder zumindest relativ kurz danach – was aber auch heisst, dass dies der Moment für sowohl junge Newcomer als auch die Elite ist, neue musikalische Inputs einzubringen.
«Die steile These: Trap steht kurz vor dem Ableben - musikalisch und idealistisch.»
Hier greift auch die sehr steile These, dass Trap kurz vor seinem genretechnischen Ableben zu stehen scheint. Dies geschieht auf zwei verschiedenen Ebenen – musikalisch und idealistisch. Musikalisch ist hier besonders die Bereitschaft, sich Einflüssen anderer Genres zu bedienen, zu erwähnen und sie beschränkt sich nicht nur auf ein Subgenre, sondern eine ganze Szene. Betrachtet man Reviews der letzten Jahre, die einen bis anhin relativ unbekannten Newcomer in den Himmel loben, so fällt in gefühlt neunzig Prozent der Fälle das Stichwort «nicht in eine Schublade zu stecken». In der letzten Dekade ist ein szeneweiter Trend entstanden, sich Elementen anderer Genres oder Subgenres zu bedienen und sie mit kontemporärem Sound zu verbinden. Nicht, dass das etwas Aussergewöhnliches wäre, sich ausserhalb des eigenen Genres zu bewegen – in einer sehr statischen und konformitätsliebenden HipHop-Szene ist das aber ein ziemliches Novum.
«Die nächsten Dekaden werden wahrscheinlich nicht von Lil Pumps, Lil Babys oder Gunnas geprägt werden, sondern von Künstler, die einen experimentelleren Approach an Trap wagen.»
Namentlich hervorzuheben sind die Genres Indie und Rock, wobei aber auch elektronische Musik immer wieder Quelle für Inspiration zu sein scheint. Und während Lil Uzi Vert, Tyler, the Creator oder aber Kaytranada die offensichtlichen Vertreter dieses sehr genrefluiden Sounds sind, schleichen sich Elemente anderer Genres auch immer mehr in die Musik der stereotypischeren Newschool-Musiker ein. Kevin Parker, der Mann hinter Tame Impala, einer der grössten Indie-Bands der Welt, hat auf Travis Scotts «ASTROWORLD» mitproduziert und -geschrieben – «SKELETONS» ist mehr Indie als etwas anderes. A$AP Rocky hat mit der 2018 erschienenen Single «Sundress» ein Tame Impala-Cover veröffentlicht oder aber Trippie Redd, der 2018 mit «How You Feel» einen Rock-Track auf ein Trap-Album gepackt hat. Diese Stossrichtung wird wohl in den nächsten Jahren immer weiter vorangetrieben werden. Nicht umsonst wird jedem Newcomer, der einen Gitarrenriff sampled, der Punk-Stempel aufgedrückt. Und auch wenn nur ein Meme, Lil Uzi Verts «Futsal Shuffle 2020» ist letztendlich genau der Inbegriff einer völlig neuen Auslegung von Newschool. Die Künstler, die die nächste Dekade prägen werden, sind wahrscheinlich nicht die Lil Pumps, die Lil Babys oder Gunnas, sondern Künstler, die einen experimentelleren Approach an Trap wagen – Pi’erre Bourne, Playboi Carti etc.
Gleichzeitig zur Entfernung von klassischem Trap und der HipHop-Sphäre geschieht allerdings auch eine Rückbesinnung an Street-Rap – gerade bei der jüngsten Rapper-Generation. Es scheint ein Stück weit ein Abtauchen in eine Underground-Sphäre zu sein mit gleichzeitigem, grossem kommerziellem Erfolg. Tay-K, Kodak Black oder YNW Melly sind allesamt kontroverse Charaktere innerhalb eines schwierigen Diskurses über Trennung von Kunst und Künstler, ernten auf Seite des Musikalischen allerdings ziemlichen Respekt und knüpfen an, wo ihre Vorgänger berühmt wurden und ihren Sound verändert haben oder aber irrelevant wurden. Einen entscheidenden Einfluss auf diesen kommerziellen Erfolg des «Untergrunds» haben Streamingdienste, bis vor seiner grossflächigen Monetarisierung vor allem Soundcloud. Ohne Label-Strukturen und ohne Abhängigkeit vom Erfolg eines Mixtapes oder sonstigen Projekten – um in einer lokalen Szene Aufsehen zu erregen, konnte vor allem mit Soundcloud eine Plattform geboten werden, auf welcher Qualität relativ unbeeinflusst von grösseren Strukturen bewertet werden konnte, was diesen Künstlern extrem in die Karten spielt.
«Konformität an Popstandards ist ein weiterer verheerenderer Grund für das Ende der Trap-Ära – dramatisch gesprochen.»
An dieser Stelle ist aber auch das Problem mit dem Idealismus festzumachen. Denn Konformität an Popstandards ist neben der musikalischen Veränderung in der ganzen Szene der zweite, verheerendere Grund für das Ende der Trap-Ära – dramatisch gesprochen. Kontemporärer Schablonentrap, die Art von Trap auf die verwiesen wird, wenn Oldheads darüber ranten, dass alles gleich klingt, ist einer extrem statischen Popkultur zu verdanken. Das Subgenre Trap hat in den letzten Jahren abgesehen von einzelnen Individuen extrem stagniert, weil die Newschool-Kultur extrem grossen kommerziellen Wert generiert hat – und das hat die Industrie erkannt. Nicht umsonst featured Mariah Carey Gunna auf ihrem Album. Nicht umsonst produziert Major Lazer-Frontmann Diplo einen Track auf Lil Peeps post mortem erschienener Compilation, die als Album verkauft wird. Generell scheinen irgendwie taktlose post mortem Alben momentan Mode zu sein (siehe XXXTENTACION). Trap hat vor allem in den letzten zwei Jahren gerade dank dieser Kommerzialisierung extrem in seiner Entwicklung gestockt und wurde von einer immer musikalisch gesehen breiter werdenden Popkultur regelrecht einverleibt. Was kurzfristig gesehen nicht schlecht ist für die Artists, langfristig aber in kontrollierten Systemen enden kann, in welchen es nur noch an einzelnen Playern liegt, wer wie gepushed wird.
Kein Wunder also blühen Independence, Diversität und Untergrundkultur auf. Die Pop-Infiltration eines Genres ist nichts Neues. Rock hat in den 1980er-Jahren dieselbe Entwicklung durchgemacht. Es ist auch nicht so, dass die Entwicklung, die HipHop gerade durchzumachen scheint, völlig zu verteufeln sei. Eine sehr breite Masse scheint die industriekonforme Musik auch zu mögen, auch der schärfste Kritiker wird hin und wieder einen starken Track finden, wenn man nicht völlig konservativ der Musik gegenüber eingestellt ist. Bewusstsein für diese systematischen Strukturen ist allerdings wichtig, nur schon um die Trends zu verstehen, die momentan auch unseren Sprachraum beeinflussen.
«Den US-Film zu kopieren, wird nicht ewig funktionieren. Das ist etwas, was auch die Schweizer HipHop-Szene lernen muss – kulturellen Impact statt finanziellen Erfolg zu priorisieren.»
Der Indie-Zug ist – oh Wunder – noch nicht wirklich im deutschen Raum angekommen, vielleicht auch, weil er für die Musiker innerhalb der Szene nicht so relevant ist. Aber es ist schön zu sehen, dass sich auch in Deutschland Genres, die nicht direkt mit HipHop zu tun haben, langsam ihren Platz innerhalb des Rap-Gefildes sichern können. Trettmann, Yung Hurn auf seiner ab und an gesehenen Techno-Schiene oder Apache 207 sind die ersten erfolgreichen Vorreiter einer Genreöffnung im deutschen Sprachraum, die dringend nötig ist. Den US-Film zu kopieren, wie es viele momentan tun, wird nicht ewig funktionieren. Das ist etwas, was auch der Schweizer HipHop-Szene klarwerden muss – wenn man kulturellen Impact statt finanziellen Erfolg priorisert. Babylon Music haben hier vor zwei Jahren mit einem Debüttape einen kleinen Grundstein gelegt und nach und nach folgen andere Musiker mit diesem offenen Mindset, sei das auf musikalischer oder auf idealistischer Seite.
Was heisst das also für HipHop als Szene? Als Konsument verändert sich wohl nicht viel von heute auf morgen. Es gibt kein neues Medium, auf welchem Musik gehört wird und nicht jeder kleine Rapper spielt von jetzt auf gleich im ausverkauften Stade de Suisse dank den Veränderungen in der Industrie. Vielmehr verändert sich etwas auf der Seite der Artists. Es ist kein Zufall, dass die grossen Artists gerade jetzt musikalische Experimente wagen. Ich sehe Künstler, die eine Challenge präsentieren. Dass Trap als ursprüngliche Underground-Kultur in seinen Urformen wie beispielsweise Drill in seiner momentanen Form kommerzialisiert wird, fällt logischerweise den Leuten als erstes auf, die die Veränderung des Genres am nächsten miterleben – den Künstlern. Wenn ein Weltstar wie A$AP Rocky ein experimentelles Album wie «Testing» präsentiert, ist es primär ein Versuch, den eigenen Approach an Newschool einer Audienz näherzubringen und in einem weiteren Sinne eine Ablehnung dieser Veränderung in der Industrie. Trap ist nicht tot aufgrund eines Soundbilds, dem man in Zukunft nicht mehr begegnen wird. Vielmehr beginnt eine Dekade der musikalischen Diversität und der Weiterentwicklung des momentanen Soundbilds durch bestimmte Individuen einerseits, andererseits aber auch eine der finanziellen Ausschlachtung eines Ex-Untergrundphänomens. Es würde mich nicht wundern, würden wir innerhalb der nächsten Jahre eine grundlegende Aufspaltung des momentan relevantesten Musikgenres sehen.
«Trap ist nicht tot aufgrund eines Soundbilds, dem man in Zukunft nicht mehr begegnen wird. Vielmehr beginnt eine Dekade der musikalischen Diversität und der Weiterentwicklung des momentanen Soundbilds.»