Die Corona-Krise hat es erneut bewiesen: Verschwörungstheorien sind überall. Jeder kann übers Internet schnell mal eben seine Vermutung über den vermeintlichen Hintergrund der Pandemie veröffentlichen. Conspiracies sind wieder hoch im Trend – in der breiten Masse, aber vor allem auch in der Urban-Szene: Leon Lovelock wittert hinter dem Lockdown einen Komplott der Regierung. Kollegah macht seine Followers darauf aufmerksam, dass Bill Gates mit Corona-Medikamenten die Menschheit unterjochen möchte. Xavier Naidoo hat fast einen Nervenzusammenbruch, weil er scheinbar die Meinung vertritt, dass der Corona-Lockdown nur als Ablenkung für die Sprengung eines Menschenhandel-Rings diene.
Wirre Geschichten über NWO, Schattenregierungen und Illuminaten feiern also in den Krisenzeiten gerade Hochkonjunktur. Bereits 2018 haben wir im Rahmen unserer Sonderausgabe «Hat Rap ein Problem» das Thema Verschwörungstheorien im HipHop analysiert. Im Interview mit Knackeboul erklärte er uns, warum gerade Rap anfällig für solche Weltansichten ist.
Jeder kennt jemanden, der an Verschwörungstheorien glaubt. Die Sozialen Medien sind ein fruchtbarer Boden für Weltanschauungen, die einfache Lösungen für komplexe Probleme anbieten. Auch in HipHop-Kreisen sind sie beliebt: manchmal werden sie als Stilmittel oder Metapher benutzt, manchmal aber scheinen die Künstler wirklich daran zu glauben. Was die meisten Verschwörungstheorien miteinander verbindet, ist, dass sie sich gut mit antisemitischen Weltbildern in Einklang bringen lassen. Warum ist das so? Und was hat das mit HipHop zu tun? Der Rapper und Moderator Knackeboul beschäftigt sich seit Jahren mit virtuellem Antisemitismus. Er sucht regelmässig den Disput mit Alu-Hüten jeglicher Couleur und veröffentlicht Kolumnen und Videos zum Thema. Zeit für ein Gespräch.
«Viele Menschen verlieren sich in einer Spirale aus Marihuana und YouTube-Videos und schustern sich so ihr eigenes, schräges Weltbild zusammen. Die HipHop-Szene ist ein fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien.»
Knackeboul, wann hört die gesunde Skepsis auf und wo beginnt der Glaube an eine Verschwörungstheorie?
Verschwörungstheorien haben nichts mit Skepsis zu tun. Ganz im Gegenteil: es ist eine Überzeugung. Menschen, die sich YouTube-Videos zu 9/11 anschauen oder an einen Vortrag von Daniele Ganser gehen, wollen dort keine Relativierungen oder Kontextualisierungen hören. Sie wollen nicht etwas Neues lernen, was ihr Weltbild auf den Kopf stellen könnte. Sie wollen nur das hören, was sie sowieso schon glauben: «Ich hab’s doch gesagt, ich hab’s doch gewusst – endlich spricht mal jemand die Wahrheit aus.»
«Viele der schlimmsten Verbrechen in der Geschichtebasierten auf einer Verschwörungstheorie.»
Wie gefährlich sind Verschwörungstheorien?
Sehr gefährlich. Ich habe mich jahrelang mit dieser Thematik beschäftigt und bin zum Schluss gekommen, dass viele der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte auf einer Verschwörungstheorie basierten. Die antijüdische Vernichtungspolitik der Nazis oder der Genozid in Ruanda wurden massiv durch Verschwörungstheorien befeuert. Virtueller Hass kann schnell in reale Gewalt umschlagen.
«Sie wollen nicht etwas Neues lernen, was ihr Weltbild auf den Kopf stellen könnte.»
Wie präsent sind Verschwörungstheorien im HipHop, besonders im CH-Rap?
Sehr präsent. Das kann ich mir dadurch erklären, dass HipHop eine rebellische Kultur ist, die schon immer gegen ein reales oder imaginäres Establishment und gegen Unterdrückung gekämpft hat. Das ist an sich sehr lobenswert, aber viele Verschwörungstheorien bedienen sich ähnlicher Muster des «kleinen Mannes» der gegen eine «Elite» kämpft. Nur geht es in diesem Fall oft nicht um realen Struggle, sondern es werden Feindbilder kreiert, die sehr gefährlich sind. Du verlierst das Vertrauen in den Staat, in die Medien. Politischer Rap sollte für soziale Gerechtigkeit kämpfen, dabei aber keinen dubiosen Geschichten auf den Leim gehen. Viele Menschen verlieren sich stattdessen aber in einer Spirale aus Marihuana und YouTube-Videos und schustern sich so ihr eigenes, schräges Weltbild zusammen. Die HipHop-Szene ist ein fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien.
Künstler wie Prinz Pi oder Kool Savas arbeiteten früher viel mit Verschwörungstheorien als eine Art Stilmittel. Illuminaten-Stories oder Freimaurer-Fantasien dienten als eine Art Tableau für die Battle-Rap-Texte. Ist das OK oder werden dabei die Grenzen zwischen Realität und Wahnvorstellung verwischt?
Bei der ersten Betrachtung mag das unproblematisch wirken. Es funktionieren ja schliesslich sehr viele Geschichten nach diesem Conspiracy-Prinzip. Nimm mal das Beispiel «Matrix»: Es gibt eine böse Macht, die die einfachen Leute unterjocht, es gibt einen Kampf zwischen Gut und Böse und es braucht hellsichtige Helden, die den Leuten die Augen öffnen. Das ist ein guter Stoff für einen Film, muss aber richtig eingeordnet werden. So habe ich auch die Songs und Videos von Kollegah früher anders betrachtet als heute: damals fand ich sie abgespacet, verworren und irgendwie genial. Diese Flut an Zeichen, Symbolen und Geschichten hat mich fasziniert. Erst als ich gemerkt habe, dass er selbst an diese verworrenen kreationistischen Theorien glaubt und sie seinen Hörern einimpfen möchte, habe ich meine Meinung geändert. Sobald aus so einer Geschichte eine Message wird, haben wir ein massives Problem. Schau dir mal Leute wie Xaiver Naidoo an, die den Bezug zur Realität völlig verloren haben.
Was kann man gegen Verschwörungstheorien im Internet machen?
Als Erstes muss man sich vor Augen halten, dass das Internet höchstens als verstärkender Resonanzkörper für solche Ideen dient. Egal ob Antisemitismus, Rassismus, Sexismus – diese Dinge existieren in den Köpfen der Menschen. Es geht also darum, Verschwörungstheorien und den damit verknüpften Antisemitismus aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben. Dafür gibt es bis anhin noch kein Allheilmittel. Zentral sind aber Bildung, Psychologie, Awareness und soziale Gerechtigkeit. Es braucht gute Lehrer und guten Unterricht. Es braucht gute Psychologen. Es braucht mehr soziale Gerechtigkeit, damit niemand auf die Idee kommen kann, unterdrückt zu werden. Der letzte und vielleicht wichtigste Baustein ist, dass die Probleme konkret angesprochen werden wie in diesem Magazin