Jürg Halter ist schon lange nicht mehr als Kutti MC unterwegs. Nach fünf Alben und über 70 Songs hatte er 2015 das Gefühl, da geht nichts mehr. «Ich hatte in dieser Form meine Ansage gemacht», sagt der Ex-Rapper, Schriftsteller und Spoken Word Artist selber. Eine Karriere wie die des Jürg Halters gibt es selten.
«Rap ir Schwiz, dä bi ig, Rap ir Schwiz, dä gits gar nid, dä Widerspruch, dä kenni nid, King of Realness, Kutti MC», rappte der Berner provokant auf seinem ersten Track «Kutti Funk». Das war 2005. Heute meint er: «Das war eigentlich Fake News, eine ironische Punchline. Das haben viele verstanden, andere aber nicht. Damals habe ich es mir schon verscherzt mit der HipHop-Szene oder jedenfalls mit dem Teil, der humorlos ist, und der ist ja nicht unklein.»
Tatsächlich war Jürg Halter nie einer, der sich in einer klassischen Crew durch die HipHop-Szene bewegte. Er war zwar vernetzt mit anderen Rapper*innen und Produzent*innen, wurde 2003 American National HipHop Slam Champion in Chicago, arbeitete mit Deichkind, Züri West, Baze, Stiller Has und Fettes Brot zusammen. «Ich hatte nie eine Crew und bin auch nie mit zehn Männern vor dem Club gestanden, sagt er selbst. Anschluss hat er vor allem zu Menschen gefunden, die wie er auch nirgends richtig dazugehörten. «Das Ende von Kutti MC» mag schon einige Jahre her sein, doch diese Haltung prägt Jürg Halter auch heute noch in seinem Schaffen - ein Ohr auf der Strasse, ein Fuss im Literaturkreis.
«Mit der Last von allem, was ich je gekauft habe,
ohne es zu brauchen,
fahre ich aus Angst, etwas verpasst zu haben,
zurück nach Hause»
Du hast jahrelang gerappt, heute schreibst du Gedichte. Wie kam es dazu?
«Eigentlich war das eine parallele Entwicklung, es kam nicht zuerst das Eine und dann das Andere. Ich habe schon immer viel gelesen, aber auch Musik hat mich stark geprägt; in meiner Jugend vor allem HipHop. Ich habe vieles aus den USA gehört, aber auch französischen Rap wie IAM, MC Solaar und NTM. Es hat mich fasziniert, dass man die Sprache so direkt transportieren kann. Also habe ich einerseits Rap-Texte geschrieben, aber auch Gedichte. Die Rap-Texte waren immer auf Mundart, die Gedichte auf Hochdeutsch. Meine Texte sind immer intuitiv entweder in Hochdeutsch oder in Mundart entstanden, das waren keine bewussten Entscheide. Manche Ideen brauchten Musik, manche kamen ohne sie aus. Was all meine Arbeiten verbindet: die Poesie.»
«Wir leben vermutlich zum ersten Mal.
Wie soll da alles auf Anhieb klappen?»
Nehmen wir zum Beispiel deinen Song «Sunne»: Wie bist du dazu gekommen, dich im Song «Sunne» selbst als Sonne auszugeben? Grössenwahnsinn?
«Im Gegenteil. Der Song ist 2009 entstanden und erzählt von unserer Bedeutungslosigkeit im Universum. Aus der Perspektive der Sonne spreche ich Menschen im Refrain Mut zu. Nur wer andere Perspektiven einnehmen kann, erweitert den eigenen Horizont. Mir ging es nie nur darum, einfach meine Geschichte zu erzählen. Ich bin jemand, der gerne zuhört. Zum Song inspiriert wurde ich übrigens von einem südafrikanischen Poeten, den ich Jahre zuvor an einem Literaturfestival in Durban traf.»
Welche Tipps würdest du einem Menschen geben, der sein erstes Gedicht schreiben will?
«Lies viel, denke nach – das gilt für alles, was du machst: Beschäftige dich mit dem, was du machst. Grabe tiefer, konfrontiere dich mit dir selbst. Selbstkritik ist sehr wichtig. Ausserdem: Hör nicht auf deine drei besten Freunde. Ausser sie sind wirklich sehr kritisch und haben Ahnung von der Materie. Ich zeige meine Sachen nur Leuten, die schonungslos sind. Mein neues Buch ist über zweieinhalb Jahre entstanden, es war kein einfacher Weg. Jedes Gedicht hat seinen eigenen Prozess, das muss reifen. Gut ist auch, wenn man Texte zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Zuständen liest oder hört. Wenn ich zum Beispiel um fünf Uhr morgens vom Ausgang nachhause komme, lese ich meine neuen Texte. Dann bin ich viel respektloser gegenüber mir selber, und denke mir auch mal, was soll der Scheiss eigentlich. Und später überarbeite ich dann diese Anmerkungen nochmal und schaue, ob ich Änderungen beibehalten will.»
«Nichts ersetzt Gespräche in tiefer Nacht mit fremden Menschen,
die einem plötzlich näher sind
als die allermeisten, die man kennt»
Auf was sollte man beim Texten sonst noch achten?
«Gut ist auch, sich die Frage zu stellen; ob man, ohne sich zu schämen, seiner eigenen Mutter den neusten Text vorlesen oder vorrappen würdet? Viele Leute sind sich gar nicht bewusst, wie verletzend die eigene Sprache sein kann. Es geht nicht darum, möglichst politisch korrekte Texte zu schreiben, weil die oft leblos sind; die kommen dann daher wie die Broschüre eines Aktivistenvereins. Aber man sollte schon genau wissen, was man sagt und ob man wirklich dahinterstehen kann. Es ist feige, wenn man sich einfach hinter der Kunstfreiheit versteckt, weil man sich nicht mit Kritik auseinandersetzen will. Am meisten habe ich von Menschen gelernt, mit denen ich über Probleme sprach, von denen ich selbst nicht betroffen bin. Nur so entwickelt man sich als Mensch weiter.»
Du schreckst auch nicht vor krassen Themen zurück. Was hat dich zu «Opferbrief» inspiriert?
«Mich hat es wütend gemacht, wie in den Medien nach Gewaltverbrechen immer viel Verständnis für die Täter aufgebracht wird, aber die Opfer einfach in der Infobox kurz anonym abgehandelt werden. Deshalb habe ich aus der Perspektive eines Opfers einen Brief an einen Täter geschrieben, um aufzuzeigen, wie ein paar Schläge das Leben eines anderen zerstören können. «Opferbrief» ist übrigens mit Stephan Eicher entstanden und wurde danach auch in Schulen für Gewaltpräventionsarbeit eingesetzt. Ein paar Klassen besuchte ich selbst, um Gespräche mit Schülerinnen und Schülern zu führen. Das war eine sehr emotionale Erfahrung.»
Wie hat dein soziales Umfeld dazu beigetragen, dass du sowohl Rap als auch Literatur entdeckt hast?
«Ich komme nicht aus einem akademischen Haushalt. Ich habe selber das Interesse an Lesen und Literatur entwickelt. Von meinem Vater habe ich das Interesse an der Kunst. Er ist Glasmaler und Kunstglaser, also ein Kunsthandwerker. Fragen des Klassenbewusstseins habe ich mehr von meiner Mutter mitbekommen, sie arbeitet in einem Altersheim. Das sind schon Gründe, warum ich mich immer wieder mit diesen Widersprüchen befasse und warum ich immer wieder eine Distanz habe zu studierten Kreisen, in dem ich mich zwar auch bewege, gleichzeitig bin ich aber draussen auf der Strasse. Ich habe viel mit Menschen zu tun, die nicht studiert haben, die sehr intelligent und reflektiert sind und es gibt viele Studierte, die viel Schwachsinn reden.»
«Ich muss mich heute schonen, allem Anschein nach habe ich morgen einen schlechten Tag»
«In der Schule sollte man mehr zum selbstständigen Denken anregen. Lernen, kritisch zu hinterfragen, mindestens eine Stunde in der Woche Medienkritik lernen. Das heisst: lernen, wie Medien funktionieren, Quellen hinterfragen: Wem gehören welche Medien? Wem dienen sie? Eine komplexe Thematik, die zur menschlichen Bildung gehören sollte. Wie rappte doch einst Max Herre? «Wenn der Vorhang fällt, sieh hinter die Kulissen, die Bösen sind oft gut und die Guten sind gerissen.»
Rap und Literatur sind sich eigentlich sehr ähnlich, beides befasst sich mit Sprache. Und doch findet beides in ganz verschiedenen Kontexten statt. Warum wird Rap eher als primitive Kultur der Unterschicht angesehen und Literatur als elitäre Kunst der studierten Welt?
«Ich finde es schade, dass Literatur hier oft so abgehoben wahrgenommen wird. Im angelsächsischen Raum sind die verschiedenen Genres oft miteinander verwoben. Kate Tempest aus England gefällt mir zum Beispiel sehr. Sie macht Gedichte, Theater und Rap, wie ich. Und sie ist sehr durch ihre Herkunft in der Arbeiterschicht geprägt. Kendrick Lamar gewinnt auch Literaturpreise. Ich denke, man liest in den Schulen oft die falschen Texte am Anfang. Man sollte mit Schüler*innen zuerst Texte lesen, die sie auch beschäftigen. Man sollte etwa Rap-Texte lesen und analysieren und danach mit Gedichten vergleichen. Unterschiede und Ähnlichkeiten erkennen, das ist bereichernd.
Momentan übertrage ich für einen Dokumentarfilm Gedichte aus dem Amharischen ins Deutsche. Eine äthiopische Lyrikerin, die mit ihren drei Kindern in Addis Abeba auf der Strasse lebt. Sie schreibt zwischen Mülltonnen und Strassenmärkten. Das Schreiben ist existentiell für sie. Deshalb ist es auch so ein Klischee wenn man sagt, Lyrik sei etwas Elitäres. Natürlich kann es das sein, muss es aber nicht. Sowieso: Die Grenzen zwischen Rap und Lyrik sind fliessend.»
So wie in deinem neusten Stück «Glimmen», das Lyrik und Musik verbindet?
«Ja, ist es ein vertontes Gedicht? Ist es ein Spoken-Word-Song? Ist es Musik? Ist es Lyrik? Das spielt keine Rolle. Es ist, was es ist. Schubladisierungen langweilen mich. Ich mache einfach das, was ich will, das, was aus mir raus muss.»
Für welches Publikum schreibst du deine Gedichte?
«Wenn ich Gedichte schreibe, dann habe ich kein Publikum vor Augen. Dann schreibe ich über das, was mich beschäftigt. Es gibt es Gedichte, die man gleich versteht, für andere braucht man vielleicht mehr Zeit. Unterschiedliche Menschen nehmen unterschiedliche Gedichte unterschiedlich wahr. Es geht darum, aufmerksam zu lesen und sich so vielleicht selbst in einem Gedicht wiederzuerkennen.»
«Was willst du mal werden, wenn du groß bist? –
Ein Staubkorn in der Ewigkeit.»
Könnte es eine Hemmschwelle sein, sich auf Gedichte einzulassen, wenn man nicht akademisch gebildet ist?
«Manchmal fragen mich Leute, wie sie meine Gedichte verstehen müssen. Dann sage ich, du kannst es so oder so verstehen, es gibt nicht die eine richtige Interpretation. Ich finde es sehr schön, wenn mir Leute ihre Interpretation von einem Gedicht erzählen, die ich selbst so nicht gesehen habe. Und Gedichte haben ein Eigenleben. Ähnlich wie gute Song- oder Rap-Texte.»
In den USA gibt es ja eine lange Tradition von afro-amerikanischen Lyriker*innen, das spiegelt sich auch im Rap wieder.
«Afrika lebt bis heute auch von der Kultur der oral history, an vielen Orten werden Geschichten und Gedichte weitergetragen, ohne dass sie unbedingt aufgeschrieben werden. Und das prägt so selbstverständlich auch die afro-amerikanische Kultur. Das poetisch gesprochene Wort hat einen viel höheren Stellenwert als hier. Hier erachten wir etwas nur als lyrisch, das gedruckt wird, das man im Stillen für sich liest und interpretiert.»
«Ich sehe Wolken, größer als die Welt,
die treiben langsam auf mich zu.
Sag, weshalb ich so traurig bin»
Könnte das der Grund sein, warum Rap hier eher Anklang findet als Gedichte? Weil man es nicht still für sich erarbeiten muss, sondern im sozialen Umfeld gemeinsam geniessen kann? Füllt Rap hier eine Lücke, die Lyrik hinterlässt?
«Ja, und das könnte auch der Grund sein, warum ich mich nirgends ganz zugehörig fühle. Wenn ich zum Beispiel in einem Literaturkreis auftrete und diskutiere, dann herrscht das Vorurteil, dass Rap nur aggressiv und primitiv sei. Umgekehrt heisst es in der HipHop-Szene oft, Literatur sei einfach elitär. Für mich kann Schönheit und Wahrheit aber in allem zu finden sein: Im Rap, in der Literatur, in der Kunst. Und so versuche ich seit über 20 Jahren das Gemeinsame aufzuzeigen, indem ich die Grenzen zwischen den Kulturen überwinde. Das ist wohl auch ein Grund, weshalb mein neues Buch «Gemeinsame Sprache» heisst. Weil darum geht es doch im Leben an sich: Trotz aller Unterschiede, trotz allem Trennenden, das Verbindende, das Gemeinsame zu suchen und zu feiern.»
Alle eingeblendeten Zitate entstammen dem Gedichtband «Gemeinsame Sprache», Dörlemann Verlag, 2021 ©.